Kalte Fluten
dafür, was man einer offensichtlich Bekloppten gab, um sie zu sedieren?
Drei Wochen war sie in der Geschlossenen gewesen. Drei quälende Wochen, in denen sie widerspruchslos viele bunte Pillen schluckte. In denen sie sich kooperativ gab. Sie ertrug das mitleidige, großväterliche »Wie geht es uns denn heute?« des einen Teils der Ärzteschaft genauso wie die kalte, überhebliche Arroganz der anderen, die nie mit ihr, sondern immer nur über sie sprachen. Sie wollte alles tun, um wieder für ihren Sohn da zu sein.
Sie hatte doch nur ihren Nick verteidigt. Ihren Schatz, den böse Mächte vom Jupiter entführen wollten. Deshalb hatte sie die Möbel auf die Straße geworfen, um die Außerirdischen zu vertreiben.
Gott, was war ihr das jetzt peinlich.
Man hatte ihr Tabletten gegeben. Antipsychotika. Sie war wieder klar geworden. Ihre Wahnhandlung schmerzte sie nun in der Erinnerung. Das würde ihr nie wieder passieren. Allein schon wegen Nick.
Doch der Vater von Nick hatte durchgesetzt, dass ihr das Sorgerecht mit einer einstweiligen Verfügung entzogen wurde. Ein Kind in der Obhut einer Verrückten? Unmöglich. So sah es auch der Familienrichter. Er vermied lediglich das Wort »verrückt«.
Natürlich wusste Thomas, dass der Richter gar nicht anders konnte. Er entschied zum Wohle des Kindes. Das war nun mal seine Aufgabe. Nick war derzeit besser bei seinem Vater aufgehoben. Aber diese Entscheidung nahm der Frau jede Lebensperspektive. Ihm oblag es, ihr wieder eine zu geben. Das war seine Aufgabe.
»Nein«, sagte Thomas. »Sie sind nicht verrückt. Sie sind krank. Wissen Sie, wenn eine Mutter einen Herzinfarkt bekommt, tagelang auf der Intensivstation liegt und danach eigentlich ein Pflegefall ist, weil die geringste Anstrengung für sie tödlich sein kann, würde kein Richter dieser Welt dieser Frau das Sorgerecht entziehen.«
Würde er wohl doch. Aber Thomas merkte, wie diese Lüge der Frau half. Sie nickte und blickte wieder hektisch durch den Raum.
»Sie dagegen haben das Pech, dass Ihre Krankheit von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Man erkrankt nicht am Geist. Höchstens am Körper. Aber nie am Geist.«
»Gibt es viele wie mich?« wollte sie wissen.
»Mehr, als die Menschen im Allgemeinen annehmen. Das Lifetime-Risiko, wie wir das nennen, beträgt bei der Schizophrenie etwa ein Prozent. Das bedeutet, dass einer von hundert in seinem Leben etwas Ähnliches durchmacht wie Sie. Wenn man es so betrachtet, haben Sie eigentlich etwas völlig Normales, sozusagen eine Volksseuche. An Asthma zum Beispiel leiden fünf Prozent der Bevölkerung. Die meisten davon ohne Aussicht auf Heilung …«
»Kann ich denn wieder gesund werden?«, fragte sie ihn mit flehendem Blick.
Thomas lächelte. »Ich wollte es Ihnen gerade sagen. Im Gegensatz zu einem Asthmatiker haben Sie sehr gute Chancen, wieder ganz gesund zu werden.«
»Wirklich?« Sie strahlte ihn an.
»Ja, wirklich«, sagte Thomas. »Ich helfe Ihnen.«
»Wann kriege ich Nick zurück?«
»Wenn ich nach bestem ärztlichen Gewissen ausschließen kann, dass Sie rückfällig werden. Doch das dauert seine Zeit. Wir sind jetzt ganz am Anfang. Die Tabletten helfen. Wir kombinieren die Medikamentengabe mit einer Gruppentherapie und einer tiefenpsychologischen Behandlung. Sind Sie damit einverstanden?«
»Natürlich, Herr Doktor«, sagte sie schnell. Dann fügte sie bittend, fast fordernd hinzu: »Wie lange ungefähr?«
»Rechnen Sie mit einem Jahr.«
Ihr Lächeln gefror. »Ein Jahr? So lange?«
»Es tut mir leid, Sie haben eben keinen Herzinfarkt, wie gesagt. Wir müssen die anderen überzeugen. Je besser Sie mitmachen, desto schneller kann es gehen.«
Die Frau fügte sich. Was blieb ihr auch übrig?
»Meine Assistentin wird Ihnen die Termine für die Gruppentherapie und für unser nächstes Gespräch geben«, sagte er zum Abschied. »Wir schaffen das!«, ergänzte er mit einem herzlichen und offenen Gesichtsausdruck.
»Danke, Herr Doktor.«
Die Frau ging. Thomas griff zum Telefon.
»Manuela, was habe ich heute noch vor?«, fragte er die Vorzimmerdame, die ihn und seine Termine managte.
»In einer halben Stunde kommt Frau Bodelschwing wegen ihrer Kleptomanie. Um siebzehn Uhr müssen Sie los wegen der Fortbildungsveranstaltung. Ach ja, Frau Sollich hat angerufen. Sie sollen sie zurückrufen.«
»Danke, mache ich«, sagte Thomas. Er tippte kurz auf die Telefongabel, um das interne Gespräch zu unterbrechen, und wählte aus der Kurzwahlliste die Nummer
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