Kalte Fluten
nicht vertreiben. Dann lieber allein sein und saufen.
»Morgen«, sagte er. »Morgen können wir reden. Heute muss ich erst mal mit mir selbst ins Reine kommen.«
»Natürlich«, sagte Günter. »Aber wenn du mich brauchst, komme ich. Ruf einfach an, egal wie spät es ist.«
»Nein«, sagte Wolfgang. »Ich will heute niemanden sehen. Ich wollte dich nur informieren.«
»Gut, dann bis morgen.«
»Bis morgen.«
Wolfgang legte auf und ergab sich widerstandslos dem Alkohol. Binnen einer knappen Stunde war er volltrunken. Mit einer fahrigen Bewegung fegte er eine volle Weißbierflasche vom Küchentisch, die auf dem Fliesenboden zerbarst. Der bittersüßliche Geruch des sich auf dem Boden schäumend verteilenden Bieres erfüllte den Raum.
In seinem Zustand störte es ihn nicht. Er verzichtete jetzt sogar auf das Auffüllen des Stamperls, setzte die Obstlerflasche direkt an und schluckte den Schnaps in tiefen Zügen. Mit einem seligen Grinsen legte er seinen Kopf auf die kahle Holzplatte des Küchentisches und schlief ein.
***
Wiebke griff wieder in die Tüte. Das knuspernde Geräusch der Chio-Chips beim Zerbeißen beruhigte sie. Die Mischung aus Salz, Paprika, Geschmacksverstärker und wer weiß, was sonst noch Gutes darin verarbeitet wurde, gab dem Kartoffelsnack einen Geschmack, der Wiebke erst aufhören ließ, wenn die Tüte leer war. Es war schon ihre zweite.
Frustessen.
Sie flegelte sich auf ihrem Sofa vor dem Fernseher in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung. Minka hockte neben ihr und ließ sich kraulen. Wenigstens das.
Es lief »Wer wird Millionär?«, und Wiebke freute sich darüber, dass ein Kandidat bei der Vierundsechzigtausend-Euro-Frage große Schwierigkeiten hatte. Sie hatte ganz schlechte Laune.
Die Weinflasche war auch leer. Sie holte eine neue.
Frusttrinken.
Was bildete sich dieser arrogante Seelenklempner eigentlich ein? Sie saß hier und verzehrte sich nach Zärtlichkeit, Nähe und Sex. Und er? Er war wieder weg. Wenn es nicht seine Patienten waren, die ihn in Anspruch nahmen, dann war es eben eine Fortbildung. Erst kam der Beruf und dann lange Zeit nichts. Und dann vielleicht einmal sie.
Mit einem Satz sprang Minka vom Sofa und trollte sich.
Sie dachte an Günter. Warum dachte sie jetzt gerade an Günter? Vielleicht, weil sie glaubte, dass Günter besser bumsen konnte als Thomas. Sie wusste nicht, warum sie das wusste. Aber er würde es bestimmt besser machen als Thomas.
Wiebke!
Ja, Mama?
Du hast einen Arzt. Einen Mann, der diszipliniert und verantwortungsbewusst ist. Und kein Hallodri, wie du sie sonst immer nach Hause gebracht hast. Sei nicht undankbar.
Ja, Mama.
Das volle Weißweinglas leerte sie auf ex.
Günther Jauch verunsicherte gerade einen Kandidaten. »Sie wollen wirklich, dass ich Antwort ›B‹ einlogge?«
Wollte er den Kandidaten vor einer Dummheit bewahren oder ihn zu einer solchen erst verleiten? Eigentlich doch egal. Was kümmert’s mich?, dachte Wiebke.
Der Mann überlegte. Mehrfach sagte er, dass der Begriff »Kategorischer Imperativ« wohl auf Immanuel Kant zurückzuführen sei. Und Kant sei nun einmal Antwort »B«.
»Sind Sie ganz sicher? Vierundsechzigtausend Euro könnten bei einer falschen Entscheidung auf einen Schlag weg sein«, sagte Günther Jauch und lächelte sein Jungenlächeln, das ihn berühmt gemacht hatte.
Wiebke fragte sich, was an einem Befehl kategorisch sein könnte. Aber sie saß ja nicht in der Sendung.
Sie nahm wie zufällig das auf dem Tisch liegende Handy. Es war aus. Sie wollte schließlich ihre Ruhe. Ohne groß nachzudenken, schaltete sie es wieder ein, tippte ihre PIN ein und blätterte im Adressbuch. Dort blieb sie immer wieder bei »Günter« hängen.
Drück mich, schien die grüne Taste zu sagen.
Wiebke, sei vernünftig.
Sie legte das Handy wieder auf den Tisch und trank ein weiteres Glas Wein.
Warum will ich ihn anrufen?, fragte sie sich. Wieso trinke ich nicht einfach, esse Chips und lasse mich von der Glotze einlullen?
Sie kannte die Antwort auf die Frage natürlich. Weil ihr mit Thomas etwas fehlte, von dem sie glaubte, dass Günter es ihr geben könnte.
Es war ja toll mit Thomas, sie genoss es, jemanden zu haben. Zum Reden, Spazierengehen, zusammen essen und in manch anderer Hinsicht. Aber reichte es? Gehörte guter Sex nicht genauso zu einer erfüllten Beziehung? Durfte sie das überhaupt denken? Eigentlich müsste sie doch dankbar sein. Verboten sich solche Wünsche in ihrem Alter nicht von selbst?
Das Telefon schien
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