Kalte Fluten
Schwägerin. So weit hatte er sich noch im Griff, dass er Brigitte nicht für den Entschluss seiner Frau verantwortlich machte. Dass Caroline ihn verlassen wollte, schrieb er sich selbst zu und der Tatsache, dass er damals den Irrsinn seiner gottverfluchten Schnapsidee, nach Rostock zu gehen, nicht erkannt hatte. Schnaps? Im Grunde eine gute Idee. Doch er beherrschte sich.
Mit gesenktem Kopf erschien auch Caroline im Flur. Ihr Blick drückte ungeheure Müdigkeit und Verzweiflung, aber auch Wut aus. »Wolfgang, ich …«, stammelte sie.
»Du gehst, ich weiß«, sagte er mit einer ihn selbst erschreckenden Sachlichkeit. Es war so schneidend klar, dass es aus war. Was hatten sie denn schon noch Gemeinsames? Lydia war weg. Sie vegetierte lieber irgendwo dahin, statt mit ihnen zu leben. Vielleicht war sie ja schon tot? Eine der vielen Vermissten, deren Leichen man nie fand. Wer konnte das schon wissen?
Das Haus war die in Stein gemeißelte Dokumentation der größten Fehlentscheidung seines Lebens. Es war, wenn überhaupt, sein Haus. Sein Job hatte sie hierhergeführt. Es war seine Schuld. Nicht Carolines.
Sie hatten sich einfach nichts mehr zu sagen. Sie ging wieder dorthin, wo sie einmal glücklich gewesen war, mit der vagen Hoffnung, es vielleicht irgendwann wieder werden zu können. Immerhin hatte sie Hoffnung. Alles war besser als dieses perspektivlose Nebeneinander, diese quälende Sprachlosigkeit und diese Verachtung dem Mann gegenüber, der ihnen das alles eingebrockt hatte und unfähig war, den Fehler zu korrigieren.
Caroline und Brigitte hatten offensichtlich den ganzen Tag gearbeitet. Die Männer schleppten bereits die letzten Kisten heraus.
»Ich habe nur das mitgenommen, was ich mit in die Ehe gebracht habe«, stellte Caroline ebenso sachlich wie kühl fest. »Das Haus sollten wir verkaufen und den Erlös teilen. Ich will keinen Streit.«
Wolfgang nickte. Er war einverstanden. Was sollte er auch mit diesem Haus? Allein?
»Wann fährst du?«, fragte er mit tränenunterdrückter Stimme.
»Heute Abend noch. Brigitte und ich wechseln uns ab. Ich wohne bei ihr in Tutzing, bis ich was gefunden habe. Ich werde auch arbeiten. Nicht, um dir den Unterhalt zu ersparen, einfach nur, um wieder ich selbst zu werden.«
»Mir san so weit«, beschied sie der niederbayerische Anführer der Möbelpacker.
Caroline blickte unsicher.
Wolfgang schwieg.
Brigitte übernahm die Führung. »Fahren Sie schon einmal los, wir kommen gleich nach«, forderte sie die Männer auf.
»Ist recht«, antwortete der bullige Mann im beigen Overall und pfiff. Seine Leute erschienen und verschwanden im Führerhaus des Umzugswagens. Kurz darauf hörte man das typische Geräusch eines Lkw-Diesels, das warnende Piepen, als der Fahrer zurücksetzte, und dann das erst anschwellende und mit zunehmender Entfernung immer leiser werdende Fahrgeräusch. Carolines Hab und Gut entfernte sich aus Graal-Müritz.
Sie schauten sich in die Augen. Beide suchten krampfhaft nach Worten. Es fiel ihnen keines ein. Dann doch noch eine Floskel. Immerhin.
»Lebe wohl«, sagte Caroline.
»Ja, lebe wohl«, sagte auch Wolfgang. Sie hatten sich wirklich nichts mehr zu sagen.
Wortlos gab er dann seiner Schwägerin die Hand. Sie nickte.
Die Frauen stiegen in den Astra. Er sah dem sich mit hoher Geschwindigkeit entfernenden Auto nicht einmal hinterher. Wozu auch?
Das leer geräumte Wohnzimmer bot keine Sitzgelegenheit mehr. Er holte sich seine Flasche Obstler und setzte sich in die Küche.
Nach dem fünften Schnaps erschien ihm die Welt wieder erträglicher. Langsam kam auch Wolfgang in seinem Wunderland an. In einem Land, in dem es glückliche Familien und gesunde Kinder gab. Und keine Verbrechen, die er aufzuklären hatte, um dann doch wieder an der Rechtsordnung oder den Scheißanwälten zu scheitern.
Er wollte Wiebke anrufen und ihr sagen, dass Caroline ihn verlassen hatte. Doch ihr Handy war aus. Am Festnetzanschluss meldete sich ebenfalls nur der Anrufbeantworter. Irgendwie erschien es ihm pietätlos, eine solche Nachricht auf einen AB zu sprechen.
Er trank noch einen Schnaps. Doch auch danach verspürte er den Drang, es irgendjemandem zu erzählen. Die Angst vor der Einsamkeit kroch wie kalter Nebel in ihm hoch. Schließlich beschloss er, es bei Günter zu probieren. Der bot sofort an, vorbeizukommen.
Wolfgang dankte ihm, lehnte aber ab. Ihm reichte es, davon erzählt zu haben. Was sollte Günter denn auch groß tun? Die Verzweiflung könnte auch er
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