Kalte Fluten
Großraumwagen. Lydia lachte innerlich. Dreistigkeit war der Schlüssel zum Erfolg. Wie Fritjof gesagt hatte. Noch fünfzehn Minuten und sie würde umsteigen. Eine merkwürdige Euphorie überkam sie. Sie war eine Siegerin. Jawohl, sie könnte die Welt erobern, wenn sie es nur wollte.
Als sie in Hamburg den ICE verließ, um in den am selben Bahnsteig gegenüber bereits wartenden Anschlusszug zu wechseln, war sie müde. Es war eine schöne Müdigkeit. Sie wollte schlafen. Aber sie musste auch den Zug erreichen.
Mit Mühe schaffte sie es in den Großraumwagen. Der junge Zugbegleiter bemerkte Lydia. Sie gefiel ihm. »Darf ich Ihnen mit Ihrem Koffer behilflich sein?«, fragte er dienstbeflissen.
»Danke«, brachte Lydia hervor. Ihre Augenlider waren schwer. Zentnerschwere Gewichte schienen daran zu zerren.
»Sie sehen müde aus«, sagte der junge Mann freundlich.
»Ich bin auch schrecklich fertig«, antwortete sie.
»Soll ich Sie wecken?«
»Ja, danke.«
»Wo müssen Sie denn aussteigen?«
»In Rostock.«
Vor lauter Begeisterung für dieses aparte Geschöpf bemerkte der Mann weder das Lallen in Lydias Stimme, noch fragte er nach ihrer Fahrkarte.
Kaum hatte sie Platz genommen, übermannte sie der Schlaf. Sie begann zu träumen. Papa kaufte ihr einen herzförmigen Luftballon auf dem Oktoberfest. »Für dich, mein Sonnenschein«, sagte er. Sie lächelte selig. Ein Lächeln, wie es nur Kinder haben, denen ein Herzenswunsch erfüllt wird. Der Ballon war schön. Sie flog damit fort und winkte ihren Eltern zu, die unten an der Bude standen und ihr freundlich hinterherschauten.
Da oben waren Wolken. Bunte Wolken. Gelbe, grüne, rote. Es waren Wolken aus Zuckerwatte. Die gelben schmeckten nach Zitrone, die roten nach Erdbeeren, nach Walderdbeeren. Die grünen hatten ein wunderbares Apfelaroma. So wie die Äpfel aus Großmutters Garten.
Sie stieg höher. Immer höher. Die Sonne wurde grell, sie blendete sie förmlich. Gleißende Helligkeit. Dann explodierte die Sonne in viele Stücke, die auf sie zurasten. Immer wieder explodierten die Stücke. Kaskaden von Lichtschweifen fielen vom Himmel.
Bei der nächsten Explosion in ihrem Gehirn, um vierzehn Uhr siebenunddreißig, setzte Lydias Atmung aus. Ganz leise und unauffällig. Mit einem kindlichen Lächeln auf dem Gesicht schied sie in der ersten Klasse des ICE aus dem Leben. Diesmal war kein Arzt in der Nähe. Diesmal starb sie. Endgültig.
Der junge Zugbegleiter wartete ungeduldig darauf, die Frau wecken zu dürfen. In zwanzig Minuten würden sie in den Rostocker Bahnhof einfahren. Er fieberte dem Augenblick entgegen. Lydia erkaltete derweil.
3
Bereitschaftsdienste waren eine Erfindung des Teufels. Man hatte nicht richtig Dienst, sondern man war zu Hause und konnte eigentlich tun, was man wollte.
Eigentlich.
Denn in Wahrheit konnte man nichts wirklich richtig tun. Der Gedanke, jederzeit verfügbar sein zu müssen, verhinderte eine spürbare Entspannung. Diese Verfügbarkeit, diese Verpflichtung, auf Anruf disponibel zu sein, war für Wiebke schlimmer als so mancher harte Tag im Kommissariat mit vielen Überstunden. Solche Tage hatten wenigstens einen Anfang und ein Ende.
Sie wachte um sieben Uhr auf ihrem Sofa auf und ärgerte sich augenblicklich über sich selbst. Ihre Knochen schmerzten, weil sie so undiszipliniert war, auf dem Sofa einzuschlafen, statt in ihr Bett zu gehen. Nicht einmal die Zähne hatte sie gestern Abend noch geputzt. Sie hatte einen fahlen Geschmack im Mund, und wie ihr Atem roch, wollte sie sich lieber nicht vorstellen.
Unter der Dusche hatte sie eine geniale Idee. Warum kaufte sie nicht frische Brötchen und fuhr zu Wolfgang? Sie hatten doch beide Bereitschaft. Also konnte sie auch mit ihm frühstücken.
Sollte ein Gewaltverbrecher ausgerechnet heute sein Opfer ins Jenseits befördern, sollten sie heute eine halb vergammelte Wasserleiche in dem schmutzigen Wasser des Rostocker Hafens finden oder sollte sich gerade heute ein Selbstmörder vor den Zug werfen, sie wäre von hier wie von dort aus in zwanzig Minuten da. Caroline würde sich auch freuen. Wiebke mochte die bayerische Gemütlichkeit, die von der drallen Frau mit dem unverwechselbaren Akzent ausging. Irgendwie fühlte sie sich bei den beiden immer wie in den Komödienstadel versetzt. Das würde sie ihnen natürlich nicht erzählen.
Die heiß-kalten Wechselduschen taten ihr gut. Das nicht weichgespülte Frotteehandtuch, mit dem sie sich anschließend abtrocknete, gab ihr das
Weitere Kostenlose Bücher