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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
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Frühstückstisch zu decken.
    Wolfgang erholte sich erstaunlich schnell. Erst schien es ihm peinlich zu sein, dann wirkte er gerührt und zum Schluss erleichtert, sein Herz ausschütten zu können. Sie gingen später lange spazieren. Die würzige Luft der Ostsee blies sein Gehirn wieder frei. Er atmete tief durch. »Jetzt bin ich endgültig allein«, sagte er. »Ich habe alles versaut. Lydia ist weg. Caroline ist weg. Und das nur, weil ich Depp Karriere machen musste.«
    Wiebke nickte. Sie versuchte erst gar keinen Widerspruch. Es war so widerwärtig klar, dass Wolfgangs Entscheidung vor knapp zwei Jahrzehnten diese Situation herbeigeführt hatte. Sollte sie einem derart verzweifelten Mann sagen, dass er keine moralische Schuld auf sich geladen hatte? Sie ließ es lieber.
    »Ich muss Lydia helfen«, schob er zu Wiebkes großem Erstaunen nach. Er sah sie trotzig an. »Ja, ich weiß. Ich hab’s jahrelang und tausendmal probiert. Aber i bin’s dem Madl schuldig, nicht aufzugeben, oder?«
    »Natürlich.« Was sollte sie auch sonst sagen?
    »Hilfst du mir?«
    Wieder nickte sie, ohne zu wissen, wie sie ihm helfen konnte.
    Als sie wieder in der Küche saßen und Wiebke Kaffee kochte, klingelte ihr Handy. Es war zehn vor vier. Sie meldete sich und hörte eine Weile zu. Binnen eines Augenblicks wich trotz ihres Make-ups die Farbe des Lebens aus ihrem Gesicht. »Wir kommen«, sagte sie nur und legte auf.
    Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Lydia«, schluchzte sie. »Ich … sie ist …« Wiebke suchte nach Worten. Doch es fielen ihr keine ein. Dabei war es ein ganz simpler Sachverhalt. Es war eigentlich einfach. Sie musste nur sagen, dass etwas passiert war, mit dem sie ohnehin täglich zu tun hatten. Ein Mensch war gestorben. Na und? Nach all den Jahren der Berufserfahrung durfte sie das nicht mehr schocken. Weltweit wurden jeden Tag Millionen Menschen geboren. In jeder Sekunde Tausende. Und zugleich starben jeden Tag Millionen. In jeder Sekunde Tausende. Der Kreislauf des Lebens. Nichts Besonderes.
    Doch, es war etwas Besonderes. Es war Lydia. Wolfgangs kleines Mädchen. Ein Mädchen, das sie, wenn auch nur oberflächlich, doch immerhin kannte. Ein ihr bekannter Mensch, der quicklebendig in Amsterdam in den Zug gestiegen und tot in Rostock angekommen war.
    »Man hat sie am Bahnhof in einem Zug gefunden«, sagte Wiebke schließlich wie ferngesteuert. »Sie ist tot.«
    Wolfgang zeigte keine Regung, keine Emotion. Er hatte ja schon lange gewusst, dass sie bald sterben würde. Er war nur erstaunt, dass bald schon heute war. Er spürte, wie jedes Gefühl in ihm abstarb.
    ***
     
    Wiebke hatte versucht, ihn davon abzuhalten, sie zu begleiten. Aber ein wirklich gutes Argument hatte sie nicht gefunden. Erstens war er Polizist. Zweitens hatten sie Bereitschaft. Drittens war er ihr Chef. Und viertens? Viertens war er, verdammt noch mal, der Vater der noch immer im ICE sitzenden weiblichen Leiche.
    Als sie keine halbe Stunde nach dem Anruf den angehaltenen Zug betraten, entdeckten sie in dem von den übrigen Passagieren verlassenen Erste-Klasse-Waggon, in dem Lydia gestorben war, den Gerichtsmediziner Dr. Herbert Streicher. Er war augenscheinlich ebenfalls erst vor wenigen Minuten eingetroffen und ließ sich gerade von dem Notarzt, den der geschockte Zugbegleiter alarmiert hatte, einweisen.
    »Was war ausschlaggebend für Ihre Einschätzung, Herr Kollege, dass es sich um keinen natürlichen Tod handelt?«, fragte Streicher.
    »Nun«, sagte der sicher zwanzig Jahre jüngere Kollege nicht ohne Stolz. »Herzversagen kommt vor. Auch bei jungen Menschen. Nur sind mir die drogentypischen Einstichstellen in den Armbeugen des Opfers aufgefallen. Da ist mir der Verdacht einer Überdosierung gekommen.«
    »Möglich«, sagte Streicher und strich sich nachdenklich durch seinen weißgrauen Dreitagebart. »Aber dazu müsste sie sich während der Fahrt einen Schuss gesetzt haben«, sagte er halblaut.
    Er wandte sich an die Beamten der Spurensicherung. »Habt ihr am Platz der Toten oder im Zug irgendeinen Hinweis darauf gefunden, dass sie Drogen konsumiert hat?«
    Alle schüttelten den Kopf. Einer sagte: »Bis jetzt nicht, Doc.«
    »Der Schaffner berichtete, sie sei in Hamburg todmüde aus dem Zug aus Amsterdam in diesen hier umgestiegen, habe sich auf ihren Platz gesetzt und sei sofort eingeschlafen«, erzählte der Notarzt.
    »Sagte der Schaffner das?« Streicher rieb sich gedankenverloren das Kinn. »Dann hat sie sich den Schuss

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