Kalte Fluten
vermutlich schon im Zug nach Hamburg gesetzt und ist mit der tödlichen Dosis im Blut umgestiegen. Oder …«
»Was, oder?«
»Oder sie ist, wenn man das bei Junkies überhaupt sagen kann, tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben. Sie wissen ja, Herr Kollege, dass Junkies sterben. Eigentlich vergeuden wir unsere Zeit damit, ihnen immer wieder das Leben zu retten. Wer ist die Tote überhaupt?«
»Lydia Franke. Die Tochter von Hauptkommissar Franke, dem Leiter der Mordkommission«, sagte ein neben dem Notarzt stehender uniformierter Beamter. In diesem Augenblick bemerkte Streicher, dass Wolfgang und Wiebke, die er von vielen Mord-, Selbstmord- und angeblichen Mordfällen kannte, den Waggon betreten hatten. Er hoffte inständig, dass sie seine letzte Bemerkung nicht gehört hatten.
Wolfgang schien sich aber nicht die Bohne für Streicher und dessen Bemerkung zu interessieren. Er ging schnurstracks auf die in ihrem Sitz immer noch undefinierbar, ja, fast selig lächelnde Lydia zu. »Was machst du nur für einen Unsinn, mein Sonnenschein?«, murmelte er und strich ihr zärtlich über das Haar.
Natürlich war sie tot. Das wusste er. Aber einen ganz kleinen Augenblick lang wollte er wohl die Wahrheit verdrängen. Mechanisch streichelte er die Leiche weiter. Er wollte nur einen kurzen Moment, um von seinem Sonnenschein Abschied zu nehmen. Nur so lange sollte sie noch lebendig sein. Wenigstens für ihn.
Er drückte sie, nahm sie in den Arm, legte seinen Kopf auf ihre Schulter und flüsterte auf Bayerisch: »I hoab di immer gliebt. Mach’s guat, Sonnenschein. Servus! Mia seng uns im Himmi wieda.«
Es sagte es leise und intim. Aber alle hatten es gehört. Bei Wiebke liefen die Tränen ungehemmt. Streicher schluckte schwer.
Dann wandte sich Wolfgang dem Pathologen zu. Es kostete ihn ungeheure Anstrengung. »Wie lange brauchst du, um mir zu sagen, woran sie gestorben ist?«
Streicher schnaufte. Sein Wochenende war im Eimer. Aber das war er Wolfgang Franke schuldig. Dass er sich sofort um die Umstände kümmerte. Sofort und nicht erst Anfang nächster Woche. »Lass uns in die Gerichtsmedizin fahren. Ich will sehen, was ich heute noch rausfinde«, sagte er also.
Auf seinen Wink luden zwei kräftige Männer Lydias Leiche in den Transportsarg auf dem Bahnsteig, schlossen ihn und trugen ihn vorsichtig die Treppe hinunter. Wiebke sah ihnen nach, bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren. Sie drehte sich um. Im Augenwinkel sah sie, wie Wolfgang zusammensackte.
Die noch anwesenden Sanitäter und der junge Notfallmediziner kümmerten sich sofort um ihn.
»Schock, vermutlich«, sagte der Arzt und prüfte den Puls. »Er sollte zur Beobachtung in ein Krankenhaus.«
Wiebke verstand, nahm ihr Handy und rief Thomas an. Es war nur ein kurzes Gespräch. »Danke«, sagte sie abschließend. »Bis heute Abend.« Sie legte auf. »Bringen Sie ihn in die Uni-Klinik«, forderte sie den Arzt auf.
»Wohin da genau?« fragte einer der Sanitäter.
»Ins Zentrum für Nervenheilkunde in der Gehlsheimer Straße«, antwortete sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, einen Schockpatienten ausgerechnet in eine Nervenheilanstalt einzuliefern. »Mein Freund ist da Oberarzt. Dr. Thomas Schulte. Er erwartet ihn und wird sich um ihn kümmern.«
Auch wenn sie unter der Last der Eindrücke litt, die über ihr zusammenschlugen wie die Wellen in stürmischer See: Sie spürte einen gewissen Stolz, die Freundin eines »wichtigen« Mannes zu sein. Sie war die Lebensgefährtin des Arztes, der ihrem gefallenen Kollegen helfen würde.
Die Sanitäter sicherten den immer noch bewusstlosen Wolfgang auf der Trage. Vorsichtig hoben sie sie an und trugen auch ihn die Treppe hinunter.
Wiebke atmete tief ein und aus. Jetzt war Polizeiarbeit gefragt. Lydia war tot, die Umstände ihres Todes ungeklärt. Dadurch war Lydia zum Kriminalfall geworden. Vielleicht war sie »nur« an einer Überdosis gestorben. Dann würde Wiebke die Akte bald schließen können. Möglicherweise hatte ihr Dealer ihr aber auch aus Unachtsamkeit eine zu hohe Dosis verkauft. Dann wäre es fahrlässige Tötung. Oder jemand wollte Lydia loswerden und hatte das Scheißzeug gepanscht. Dann wäre es Mord.
Und wenn dem so war, würde sie den Schuldigen jagen und finden.
***
Wiebke wollte die paar Meter vom Hauptbahnhof zu ihrem Büro in der Blücherstraße laufen. Natürlich hätte sie auch mit einem der vielen Einsatzwagen fahren können. Zum Beispiel mit dem
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