Kalte Fluten
natürlich. Wenn jetzt einer einen mit meiner Waffe umlegt, bin ich mitschuldig.«
»Wolfgang«, begann Thomas. »Wir haben in unseren Sitzungen schon häufiger über deinen problematischen Umgang mit Alkohol gesprochen. Gerade bei dem verantwortungsvollen Beruf, den du ausübst.«
»Komm mir jetzt bitte nicht mit Moralpredigten«, erwiderte Wolfgang aufgebracht und trank wie ein trotziges kleines Kind sein Bier leer. »Es saufen doch alle.«
»Es geht aber nicht um die anderen, es geht um dich.«
»Ach, wisst ihr was, ihr könnt mich mal«, sagte Wolfgang, stand unvermittelt auf, verließ den Raum und knallte die Haustür hinter sich zu.
»Was hat er denn?«, fragte Wiebke verständnislos.
»Er beginnt langsam zu verstehen. Das ist der erste Schritt. So gemein das auch klingen mag: Es war gut, dass er seine Waffe verloren hat.«
»Was meinst du damit?«
»Nun: Bisher haben du, Günter und ich ihn in seinen alkoholbedingten Ausfällen gedeckt. Du arbeitest das auf, was er beruflich nicht mehr schafft. Günter ist ebenso zur Stelle, wenn man ihn braucht. Ich therapiere ihn. Jetzt hat ihn seine Krankheit in eine Situation gebracht, die wir nicht mehr ausbügeln können. Er erkennt dadurch, dass der Alkohol ihn langsam, aber sicher kaputtmacht. Ein guter Ansatz für die weitere Therapie.«
»Meinst du, er macht weiter?«
»Warum nicht?«
»Na, nach der Ansage gerade eben.«
»Sei beruhigt. Ganz sicher macht er weiter. Wollen wir wetten, dass er sich morgen zerknirscht bei dir im Büro für sein Benehmen entschuldigt und danach mich anruft, um zu sagen, dass es ihm leidtut?«
Wiebke glaubte nicht recht daran, kam aber nicht mehr dazu, die Wette anzunehmen, da das Telefon läutete. Das heilige Telefon. An Thomas’ Apparat durfte nur er gehen. Es könnte ein Patient sein, der in einer Grenzsituation mit ihm reden wolle, hatte er ihr erklärt. Eine fremde Stimme könnte schon ausreichen, dass er einfach auflegte und dann vielleicht etwas Unüberlegtes tat. Auch so eine Macke, an die sich Wiebke gewöhnen musste.
Er ist Arzt, Wiebke.
Ich weiß, Mama.
Es war aber keiner seiner »Bekloppten«, wie Wiebke, wenn sie Thomas ärgern wollte, seine Patienten bezeichnete. Es war bloß wieder Daniel.
Wieder ein Abend, an dem sie entweder bis elf bleiben und fernsehen oder jetzt gleich gehen konnte, um dann bei sich einen altdeutschen Abend zu verbringen. Ebenfalls vor dem Fernseher, aber mit Chips und Cola.
Telefonate mit Daniel dauerten mindestens eine, manchmal zwei Stunden. Thomas benahm sich während des Gesprächs so, als ob sie gar nicht existieren würde. Sie hatte dann sogar das Gefühl, ein Fremdkörper in der Wohnung zu sein, irgendwie zu stören.
Sie zog ihre Jacke an und stand eine Weile verloren im Wohnzimmer, in dem aufgeregt ihr Freund hin und her lief und sich angeregt unterhielt.
Sie winkte ihm zu.
Thomas sagte zu Daniel: »Warte mal eine Sekunde.«
Immerhin. Eine Sekunde hatte er noch Zeit für sie.
Sie mochte Daniel einfach nicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber ihr war einfach klar, dass sie ihn niemals mögen, sondern immer für abscheulich halten würde.
»Bis morgen, mein Schatz«, raunte Thomas ihr aus zwei Meter Entfernung zu. Dann küsste er sie. Sozusagen. Sie war die Empfängerin eines ihr leidenschaftlich durch die Luft zugeworfenen Kusses.
Die Wohnungstür knallte an diesem Abend das zweite Mal. Thomas registrierte es nicht einmal.
Wiebke nahm sich fest vor, dass sie sich, würde ein Sittenstrolch sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung vergewaltigen wollen, nicht wehren würde.
Aber nicht einmal ein Sittenstrolch interessierte sich für die weinend zu ihrer kleinen Wohnung laufende Frau.
2
Es gibt Situationen, die im Leben immer wiederkehren und in denen man sich immer gleich schlecht fühlt. Das Kleinkind, das verbotenerweise Bonbons genascht hat und dabei erwischt wurde, fühlt sich so. Der Schüler, dessen Spickzettel vom Lehrer entdeckt wurde, empfindet das Gleiche. Dem pubertierenden Jugendlichen, der wegen einer Mutprobe eine CD bei Kaufhof hat mitgehen lassen und jetzt vor dem Detektiv sitzt, ist so zumute.
Kriminalhauptkommissar Wolfgang Franke, der den Verlust seiner Dienstwaffe gegenüber Polizeirat Eberhart Zielkow zu verantworten hatte, erlebte gerade genau das Gleiche.
»Herr Kollege«, sagte Zielkow. »Das ist eine peinliche Sache. Ich möchte hier nicht die alte Floskel ›Die Waffe ist die Braut des Soldaten‹ zitieren oder so was. Aber es ist schon was
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