Kalte Fluten
sicher wissen, wie es mir seit unserer letzten Zusammenkunft ergangen ist. Nun, ich habe mich ganz gut geschlagen, bis ich mich mit ein paar Immobilienprojekten etwas verspekuliert habe. Die Insolvenz wird unvermeidlich, und der Skandal wird – wie das Schicksal so spielt – zur weiteren Prüfung bei dir auf dem Schreibtisch landen.
Jetzt ist es an der Zeit, eine alte Rechnung zu begleichen.
Wir treffen uns nächste Woche Montag um zwanzig Uhr in meinem Büro. Dann werde ich dir alles Weitere erklären. In deinem eigenen Interesse solltest du dir die Zeit nehmen.
Bis dahin verleibe ich mit den besten Grüßen
dein alter Freund Johannes
In fast überdeutlicher Klarheit spielten sich die Bilder des Spätherbstes 1990 vor Günters geistigem Auge ab. Bilder, die er erfolgreich verdrängt hatte und die er gern wieder vergessen würde. Aber Johannes Kleinert wollte ihn offensichtlich erpressen.
Ja, er hatte 1990 eine Straftat begangen, die, wenn sie jetzt offenbar würde, seine Existenz zerstören könnte. Kleinert wusste davon. Er war sogar an ihr beteiligt gewesen. Aber konnte er Günters Vergehen jetzt, nach so vielen Jahren, noch beweisen?
Andererseits: Durfte er sich das Risiko leisten, darauf zu vertrauen, dass die Sache nicht mehr beweisbar war? Nein, das konnte er nicht. Dazu stand zu viel auf dem Spiel. Viel? Alles stand auf dem Spiel.
Was Kleinert wollte, hatte er ja unverblümt geschrieben. Er erwartete, dass Günter erneut eine Straftat beging. Eine sogenannte Strafvereitelung im Amte, die, wenn sie ihrerseits einmal herauskommen sollte, ebenfalls seine Existenz kaputt machen würde. Er hatte während der vergangenen drei Tage im Büro nichts anderes gemacht, als sich über Kleinert und dessen Aktivitäten zu erkundigen. Sein alter Studienkollege gehörte zu den ganz Großen im Baugeschäft. Der König der Baulöwen sozusagen. Wenn ein solcher Mann nun von Insolvenz und Skandal sprach, so konnte das nur eines bedeuten: Kleinert hatte Straftaten in erheblichem Umfang begangen. Entweder hatte er eine Insolvenz verschleppt oder Betrügereien begangen oder Steuern hinterzogen. Am wahrscheinlichsten waren alle drei Delikte zusammen. Kleinert versuchte also, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, indem er sie um Günters legte.
Er legte das Schreiben wieder in den Tresor und verschloss ihn sorgfältig. Er schwankte ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und ließ sich von den »Sexy Clips«, die der Sportsender DSF jede Nacht ausstrahlte, berieseln.
Er holte sich eine Flasche Rémy Martin. Wie ein Bahnhofspenner setzte er die Flasche an und schluckte, bis sein rebellierender Magen ihn zwang, sie wieder abzusetzen.
Er fühlte sich allein.
Er hatte Angst.
Er begann, Johannes, den er seit 1990 nicht mehr persönlich getroffen hatte, zu hassen.
Abgrundtief zu hassen.
Dann bekam er Panik. Er erschrak vor dem, was er gerade dachte.
Er dachte tatsächlich an Mord und stellte von Angst gelähmt fest, dass ihn dieser Gedanke befreite. Ja, es wäre schön, wenn er Johannes Kleinert einfach beseitigen könnte. Einfach weg mit ihm und so verbuddeln wie den Typen, den Wiebke und Wolfgang am Montag am Brooksee ausgegraben hatten. Wäre er zu so einer Tat fähig?
Er wusste es nicht. Doch es machte ihm Angst, dass er es immerhin für möglich hielt. Nur noch eine Woche Zeit. Es musste etwas geschehen.
***
Er hatte die Waffe natürlich nicht wiedergefunden. Wiebke und Thomas betrachteten sorgenvoll das Häufchen Elend auf dem Sofa in Thomas’ Wohnung.
»Was soll ich dem Chef morgen sagen?«, fragte Wolfgang mit glasigen Augen. Er war wieder einmal betrunken. Thomas hatte erreicht, dass Wolfgang seine Suche aufgab und seinen und Wiebkes Vorgesetzten telefonisch über den Verlust der Waffe informierte. Dieser hatte ihn für Montag in sein Büro bestellt. Die Vorladung eines dringend Verdächtigen hätte er nicht unfreundlicher formulieren können.
»Wie ist sie dir denn genau abhandengekommen?«, wollte Thomas wissen. Wiebke betrachtete Wolfgang mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung.
»Ich weiß es nicht mehr, verdammt noch mal. Das hab ich dir doch schon gesagt. Als ich vom Dienst kam, hatte ich sie noch. Anschließend bin ich durch ein paar Kneipen gezogen. Und dann hatte ich so einen Scheiß-Filmriss. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß es wirklich nicht. Jedenfalls war das Ding morgens nicht mehr in seinem Halfter.«
»War die Waffe geladen?«, fragte Wiebke.
»Ja
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