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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
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Transparenten zu lesen. Es war gut gemeint, aber sinn- und aussichtslos. Sämtliche Klagen gegen die Änderung des Flächennutzungsplanes, gegen den Bebauungsplan und schließlich gegen die Baugenehmigungen waren verloren. Das letzte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts war vor einigen Tagen rechtskräftig geworden. Es hatte die Klagen abgewiesen.
    Das war der formale Startschuss für die Bagger gewesen, die jetzt versuchten, durch die sich verzweifelt an den Händen haltenden, wütenden Bürger hindurchzukommen.
    »Hier spricht die Polizei«, hörte man eine Stimme blechern durch das Megafon des Einsatzwagens rufen. »Bitte geben Sie den Weg frei.«
    Drohend und unheilvoll standen die Wasserwerfer am Rande der Fläche. Eine Hundertschaft von Einsatzkräften hatte Position bezogen. Bereit für die anstehende Schlacht.
    Wütendes Gebrüll und ohrenbetäubendes Schrillen der unzähligen Trillerpfeifen war die Reaktion. Die Baggerfahrer ließen die Dieselmotoren aufheulen. Doch die Menge wich keinen Schritt zurück.
    »Dies ist die letzte Warnung«, ließ der Beamte durch das Megafon verlauten. »Geben Sie den Weg frei, sonst wenden wir unmittelbaren Zwang an.«
    Unmittelbarer Zwang. Ein schöner Euphemismus für Gewalt.
    Die Menge entschied sich zu kämpfen. Ebenfalls mit Gewalt. Sie warfen alles, was sie auflesen konnten, auf die Baufahrzeuge. Steine, Zweige, Holzstücke. Ein wahrer Hagel prasselte auf die Stahlmaschinen ein. Diese Eskalation blieb nun ihrerseits nicht unbeantwortet. Die Hundertschaft packte die Schlagstöcke aus. Mit Schilden gegen die fliegenden Wurfgeschosse geschützt, arbeiteten sie sich Meter um Meter vorwärts. Sie erreichten die vorderste Linie. Wer sich wehrte, erhielt Schläge mit dem Knüppel. Die meisten flüchteten, die Ausweglosigkeit ihrer Situation einsehend, andere übten sich im gewaltfreien Widerstand à la Gandhi und ließen sich wegtragen.
    Einige Zaungäste blieben, um Zeugen der Zerstörung des Wäldchens und damit des Naturschutzgebietes zu werden. Mit Motorsägen wurden die ersten Bäume gefällt. Langsam nahm die Schneise Gestalt an.
    Caterpillars mit riesigen Schaufeln trugen den Mutterboden ab. Große Muldenkipper fuhren die Erde weg. Plötzlich übertönte ein Warnsignal das ohnehin schon ohrenbetäubende Geräusch der Baufahrzeuge. Der Fahrer eines Schaufelladers stellte den Motor ab. Die Schaufel ragte hoch in die Luft. Der Fahrer war bleich.
    Dem Bauleiter stockte der Atem, als er zu dem Bagger lief. Sollten sie auf einen Blindgänger gestoßen sein? Aber ein Blindgänger hier in der Einöde? Welcher Idiot von Bomberpilot hätte denn versucht, ausgerechnet hier zu bomben? Hier, wo seit Menschengedenken nichts gestanden hatte?
    Es war keine Bombe. Wie eine Trophäe hatte der unglückliche Arbeiter mit einem Zinken seiner Schaufel einen menschlichen Schädel aufgespießt und nach oben befördert. Die Reste des Skeletts lagen noch im Boden.
    Der Baggerfahrer übergab sich. Die Polizisten informierten die Kripo.
    ***
     
    Sie hatte extrem schlechte Laune. Die Woche begann beschissen. Wütend prügelte Wiebke das Auto durch den Verkehr. Vom Südring bog sie nach links in die Nobelstraße ein. Es war Montagmorgen, noch nicht einmal acht Uhr, und schon musste sie zu einem Einsatz. Viel hatte der Kollege, der sie alarmiert hatte, nicht erzählen können. Nur dass man bei Beginn der Bauarbeiten am Brooksee auf eine Leiche gestoßen war.
    Neben ihr saß Wolfgang. Wie meistens, wenn sie unterwegs waren, blickte er teilnahmslos aus dem Fenster. Sein Atem roch noch nach Bier. Natürlich verstanden sie, dass Lydias Tod und die Scheidung von Caroline für Wolfgang harte Schicksalsschläge waren. Und selbstverständlich unterstützten ihn alle, wo sie nur konnten.
    Thomas hatte ihm geholfen, das Haus in Graal-Müritz zu verkaufen, und für Wolfgang eine kleine Wohnung in der Thomas-Mann-Straße gefunden, nur einen Katzensprung von seiner Wohnung entfernt. Ja, sogar beim schweren Gang zum Scheidungsrichter war Thomas an Wolfgangs Seite gewesen. Er war mehr als nur sein Therapeut. Er war ein richtiger Freund geworden.
    Für Wiebke war es eine Zeit lang gar keine Frage gewesen, mehr zu arbeiten, damit er den Freiraum hatte, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Früher war Wolfgang, obwohl das für einen Bayern ein Widerspruch in sich war, der Inbegriff preußischer Disziplin und Pflichterfüllung gewesen. Jetzt saß ein menschliches Wrack und Abziehbild eines Polizisten neben ihr.

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