Kalte Fluten
Körper zuckte. Die anderen Fahrer und das Personal der Café-Bar gafften.
»Noch mal!«, kommandierte der Arzt. Wieder pfiff das Gerät in hohem Ton. Erneut zuckte der klinisch tote Körper. Wieder vergebens.
Erst der vierte Versuch war erfolgreich.
»Ich habe ihn wieder«, sagte der Arzt erleichtert. Er verabreichte das Medikament, während die Sanitäter die Trage aus dem Rettungswagen holten.
»Entschuldigung«, sagte der Kellner. »Das passt jetzt überhaupt nicht, ich weiß. Aber wir brauchen den Schlüssel für den Laster. Der versperrt hier doch alles.«
Der Arzt nickte, durchsuchte die Hosentaschen des zwar wieder lebenden, aber immer noch ohnmächtigen Mannes. Er warf dem Kellner den Schlüsselbund zu.
Der fing ihn auf und wartete, bis der Mann auf der Trage festgeschnallt und im Krankenwagen sicher verstaut war.
»Wer kann seinen Brummi mal anständig parken?«, fragte er dann in die Runde.
»Gib her«, sagte ein untersetzter Mann und nahm die Schlüssel. »Womit war er denn unterwegs?«, fragte er.
»Mit dem Kühllaster da«, sagte der Kellner.
Der Mann ging nach draußen, bestieg das Fahrzeug, ließ es geräuschvoll an und parkte den Lastwagen ordnungsgemäß. Dann kam er kopfschüttelnd zurück. »Dem ging’s wohl schon länger nicht gut«, meinte er zum Kellner, als er ihm den Schlüssel zurückgab.
»Wie kommst du darauf?«
»Den Papieren nach hat er Schweinehälften geladen. Die müssen bei minus achtzehn Grad transportiert werden. Die Kühlung stand aber auf minus fünf.«
»Haste das geändert?«, fragte der Kellner.
»Natürlich. Wird ja schließlich dauern, bis der Ersatzfahrer hier ist. Die Ware verdirbt doch sonst. Rufst du den Chef von dem Laden an? Ich muss mich jetzt nämlich wirklich vom Acker machen, sonst ist meine ganze Einsatzplanung im Eimer.«
Der Kellner wählte die Nummer, die in großen Buchstaben auf dem Lkw prangte. Sie begann mit »0381«, der Vorwahl Rostocks. Noch während er mit der Firma sprach, verstarb der Fahrer auf dem Weg ins Krankenhaus an einem Folgeinfarkt.
Es wurde immer kälter. Sie froren. Sie weinten. Aber da geschah das Wunder: Auf einmal wurde ihnen warm, richtig gemütlich. Endlich. Sie schliefen ein. Das letzte Mal in ihrem Leben.
***
»Ich finde es nun wirklich nicht sehr partnerschaftlich, dass du dich immer noch weigerst, Daniel kennenzulernen«, sagte Thomas unwirsch. Er packte einige Sachen zusammen, die er für den bevorstehenden Ausflug mit seinem Segelboot brauchte.
Wiebke saß, in einen Unterhaltungsroman vertieft, auf dem Sofa. Sie wollte den Samstag auf ihre Weise genießen. Vom »Quadratsegeln« hatte sie die Nase gestrichen voll. Sie trug ihre Gammelklamotten. Ein T-Shirt, das etwas zu eng war und ihre Brüste betonte, und eine Fleecehose. Ihre nackten Füße hatte sie bequem auf dem weißen Glattleder platziert. Thomas würde sich nie so undiszipliniert auf sein Sofa setzen. Er würde auch nie so schlampige Kleidung tragen. Anfangs hatte Thomas noch versucht, sie zu erziehen. Doch er hatte diese Art der Entspannung zwischenzeitlich wohl als eine ihrer Eigenarten akzeptiert.
Sie blickte unwillig von ihrem Buch auf, schaute Thomas lange an und holte tief Luft. »Thomas«, sagte sie. »Wir beide mussten uns aneinander gewöhnen. Ich akzeptiere viel. Ich akzeptiere, dass du springst, wenn einer deiner Verrückten wieder einmal einen Anfall hat und du ihn in die Wirklichkeit zurückholen musst. Egal, was wir gerade tun. Egal, wo wir gerade sind. Ich akzeptiere, dass wir in einer klinisch sterilen Wohnung leben. Für dich ist Sauberkeit wichtig, für mich nur Mittel zum Zweck. Aber sei es drum. Ich räume meine gebrauchten Tassen sofort weg. Sollte ich mal krümeln, habe ich mich mit der Funktion des Handstaubsaugers angefreundet. Ich desinfiziere regelmäßig das Bad. Alles das habe ich verinnerlicht. Ich weiß, dass eine Partnerschaft viele Kompromisse erfordert. Und glaube mir: Wenn man, wie ich, erst mit über vierzig das erste Mal mit einem Menschen zusammenzieht, ist die Anzahl der Kompromisse besonders hoch.«
»Meinst du denn, bei mir ist das anders?«, fragte Thomas.
»Nein, sicher nicht. Deshalb sage ich normalerweise ja auch nichts. Nur Daniel geht gar nicht. Ich verstehe, dass er dein Bruder ist. Ich habe mich daran gewöhnt, dass du mit ihm alle paar Tage stundenlang telefonierst und ich in dieser Zeit Luft für dich bin. Wenn du ein- bis zweimal im Monat mit ihm deine Quadrate auf der Ostsee segeln willst,
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