Kalte Fluten
einem fiesen Lächeln redete er weiter.
»Nach einer weiteren Viertelstunde ist die linke Hand dran. Dann der rechte Fuß. Schließlich der linke Fuß. Aber ihr werdet immer noch leben. Glaubt mir, ihr werdet noch leben. Noch eine grausame weitere Viertelstunde schenke ich euch. Dann zerfetzen die Dynamitstangen um eure Brust eure erbärmliche, minderwertige Existenz. Ihr werdet diesen Augenblick herbeisehnen.«
»Bitte nicht«, flehten sie. »Bitte Gnade.«
»Gnade kann nur erwarten, wer auch gnädig war«, sagte er und fuhr in sachlichem Ton fort: »Es ist fast ausgeschlossen, dass hier jemand vorbeikommt und euch schreien hört. Aber selbst wenn. Ich habe auch dafür vorgesorgt. Sollte jemand die Türklinke herunterdrücken, nachdem ich euch eurem Schicksal überlassen habe, wird der Mastereffekt ausgelöst. Eure Körper werden dann sofort gesprengt. Da ihr vermutlich so lange wie irgend möglich leben wollt, könnt ihr eigentlich nur hoffen, dass euch niemand hört. Und jetzt: Bereut, ihr Barbaren!«
Er schaltete das Gerät ein, das ihre Leiber tatsächlich, wie angedroht, mit regelmäßigen Stromstößen quälte. Sie zuckten synchron zum Takt des Blinkgebers.
Dann aktivierte er die Zeitzünder für die Dynamitstangen im zweiten Kasten und ging ohne weitere Worte. Sie hörten ein Auto wegfahren. Ihr Mörder verließ den Ort.
Eine Stunde lang brüllten sie vor Schmerz und Angst.
Sie riefen und flehten um Hilfe. Dann beteten sie. Danach schrien sie markerschütternd.
Aber in dieser Einöde hörte sie niemand. Auch die vier Detonationen, die pünktlich jede Viertelstunde zwischen dreiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr erfolgten, zerrissen zwar die unheimliche Stille auf dem Gelände, blieben aber von anderen Menschen ungehört.
Nach der ersten Explosion stießen sie an tierische Laute erinnernde, durchdringende Jammerlaute aus. Theoretisch hätten sie ohnmächtig werden können. Nicht nur ihr Peiniger, auch ihre Körper waren gnadenlos. Sie erlebten auch diese letzte Stunde ihres Lebens bei vollem Bewusstsein.
Erst der fünfte Knall löschte schließlich das Leben zweier Menschen aus, die zwei Stunden lang bitter ihre Untaten bereut hatten. Er hatte sein Ziel erreicht.
***
Der Anruf kam am Donnerstagmorgen um sieben Uhr dreißig. Wiebke stand noch unter der Dusche, als Thomas wie wild an der Badezimmertür klopfte. Sie stellte das Wasser ab, stieg aus der Dusche, öffnete die Tür und fragte triefend nass und ein wenig verärgert: »Ja, was gibt es denn?«
»Es ist Streicher von der Rechtsmedizin, er sagt, es sei dringend«, antwortete Thomas und hielt ihr das Handy hin.
Sie schüttelte den Kopf und deutete auf den Schaum in ihrem Haar. »Sag ihm, ich beeile mich und rufe in zehn Minuten zurück.«
Obwohl sie sich sputete, dehnten sich die unvorsichtigerweise zugesagten zehn Minuten auf fünfundzwanzig aus. Alles in allem zwar eine Rekordzeit, aber eben doch zu lang. Streicher war bereits zu einem Termin gegangen, als sie schließlich zurückrief. Sie meldete sich für elf Uhr bei seiner Sekretärin an. Was er ihr so Dringendes hatte sagen wollen, wussten aber weder Thomas, dem Streicher trotz Nachfrage keine Auskunft gegeben hatte, noch die Sekretärin.
An konzentrierte Arbeit war nun nicht mehr zu denken. Sie schickte Stoßgebete zum Himmel. Ausgerechnet sie, die 1969 in der DDR geborene und deshalb wie die meisten Ossis nicht getaufte Atheistin. Aber Gebete sollen ja auch helfen, wenn man nicht daran glaubt.
Viel zu früh machte sie sich auf den Weg ins rechtsmedizinische Institut. Natürlich musste sie dann dort warten. Um acht nach elf kam Streicher endlich hereingerauscht.
»Guten Morgen, schöne Kommissarin«, sagte er gut gelaunt.
»Danke für die Blumen. Aber ich platze vor Neugier. Hast du etwas herausgefunden?«
»Du hattest, meine Liebe, die richtige Spürnase«, lobte er sie.
»Jetzt spann mich nicht auf die Folter. Sag, was du herausgefunden hast.«
»Also«, begann Streicher künstlich gedehnt. »Wie du richtig vermutet hast, handelt es sich bei dem winzigen Fleck auf dem Hemd des Toten um Blut. Und wie du ebenfalls angenommen hast, stammt es nicht vom Toten.«
»Von wem dann?«, fragte Wiebke ungeduldig.
Streicher genoss seinen Auftritt. Er beschloss, diesen Augenblick noch ein wenig zu genießen.
»Gemach, Wiebke. Ferner hast du mich gebeten, ein Haar zu untersuchen, von dem du ebenfalls annahmst, dass es nicht zum Toten gehört. Auch diese Annahme kann ich
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