Kalte Fluten
Nigerianer waren der Verlockung erlegen und ins gelobte Land aufgebrochen. Sie hatten schon eine wahre Odyssee hinter sich. Für fünftausend Dollar pro Person hatte man ihnen das Paradies versprochen. Ein Leben in einem Land, in dem Milch und Honig flossen. Dafür hatten sie alles aufgegeben. Alles für das vage Versprechen, bald im Überfluss und Wohlstand leben zu dürfen. Nun hockten sie eingepfercht in einem Lieferwagen. Die Luft war stickig.
Die Tür öffnete sich und ein Mann blaffte sie in schlechtem Englisch an: »You climb now another truck. Get off. But quick!«
Obwohl es an der Ausfallstraße auf einem einsamen Parkplatz nördlich von Bologna mitten in der Nacht über zwanzig Grad warm war, zitterten die Menschen. Sie schlotterten vor Angst. Niemand hatte ihnen gesagt, wie genau sie nach Deutschland kommen würden. Sie hatten schon die Überfahrt im Frachtraum eines Seelenverkäufers überstanden. Auch die Fahrt bis hierher in dem alten Ford Transit hatten sie gleichmütig ertragen. Was kam jetzt?
Der bullige, untersetzte Fahrer des Tiefkühltransporters begrüßte den Schleuser. »Ist das meine Fracht?«, fragte er.
»Ja, frisch aus Nigeria. Hältst du sie bis zur Ostsee auch schön kühl?«
»Ich habe Schweinehälften geladen. Müssen eigentlich bei minus achtzehn Grad transportiert werden. Aber damit meine Passagiere es schön gemütlich haben, sind es nur minus fünf Grad. Das hält selbst ein Neger zehn Stunden lang aus.« Er lachte dreckig und öffnete den Laderaum.
Der Schleuser trieb die Nigerianer zur Eile an: »Get on! Quick!«
Sie befolgten den Befehl. Sie hatten keine Alternative.
Jeder erhielt eine Decke.
Nachdem der letzte Flüchtling irgendwie zwischen den Schweinehälften Platz gefunden hatte, wurde die Ladetür verschlossen. Es wurde stockdunkel. Einige Menschen weinten.
Der Schleuser gab dem Fahrer des Tiefkühltransporters zwanzigtausend US-Dollar. Tausend pro Person. Fünftausend davon behielt er selbst, sein Chef bekam fünfzehntausend. Ein nettes Zubrot.
Der Fahrer setzte den Lkw in Bewegung. In gut zehn Stunden würde er die menschliche Ware in einem einsamen Waldstück irgendwo zwischen Wismar und Rostock ausladen. Er biss herzhaft in sein Mayonnaise-Sandwich mit Thunfisch und Ei. Es lag schon seit heute Mittag im Führerhaus und war warm geworden. Doch er hatte Hunger.
Als er den Brenner erreichte, lief ihm der kalte Schweiß in Bächen über seinen ganzen Körper. Ihm war schlecht. Er hatte Schmerzen in seiner linken Brust. Es fiel ihm schwer, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Eine undefinierbare Panik breitete sich in ihm aus. Er hatte Angst zu sterben. Mit letzter Kraft lenkte er den Vierzehntonner auf den Parkplatz und stellte ihn irgendwie ab. Schwankend schleppte er sich in die Café-Bar. Er presste seine Hand auf seine linke Brust.
»So kannst du deine Kiste aber nicht abstellen«, sagte der Kellner hinter der Bar und deutete auf den draußen im Fahrweg abgestellten Lkw.
Der Mann reagierte auf diesen Satz überhaupt nicht, sondern lallte mehr, als dass er sprach: »Arzt, bitte, schnell.« Dann sackte er zusammen und wurde ohnmächtig.
»Helft dem Mann!«, brüllte einer der anwesenden Fahrerkollegen.
Man holte Decken, prüfte Puls und Atmung und brachte den Mann in eine stabile Seitenlage.
»Wo bleibt der Scheiß-Arzt?«, donnerte einer der Umstehenden.
Nach etwa einer halben Stunde, die den wartenden Fahrern aber wie eine halbe Ewigkeit vorkam, erschienen die Sanitäter und der Notarzt. Er prüfte die Vitalfunktionen. Der Puls des Mannes war kaum spürbar. Seine Atmung flach. Er wies einen Sanitäter an, den Mann zu überwachen.
»Was ist passiert?«, fragte er die Umstehenden.
»Er kam rein«, antwortete der Kellner, »mehr wankend als gehend. Er sah unglaublich schlecht aus. Er wollte einen Arzt.«
Der Mediziner nickte. »Sonst noch was?«
»Ach ja, seine Hand presste er auf seine Brust. Als wenn er was niederdrücken wollte.«
Die Informationen reichten zur Diagnose völlig aus. Der Mann hatte einen schweren Herzinfarkt erlitten. Er öffnete seine Tasche, um ein schmerzstillendes und blutverdünnendes Medikament auf eine Spritze zu ziehen, als der Sanitäter aufgeregt rief: »Herzstillstand.«
Schnell, routiniert, aber ohne jede Hektik machte der Sanitäter den Defibrillator einsatzbereit. Der Arzt klebte die Paddles auf den Brustkorb des Mannes. Pfeifend lud sich der Kondensator auf. Er jagte siebenhundertfünfzig Volt durch den Mann. Der
Weitere Kostenlose Bücher