Kalte Freundschaft
Sie ist auf
Bitten und Flehen eingestellt, sogar auf einen plötzlichen Wutausbruch, und bereit, in diesem Fall rasch aufzuspringen und zu gehen. Aber er verblüfft sie, indem er ergeben nickt.
»Damit hatte ich gerechnet«, murmelt er.
17
Es ist Marielle, die sie von ihrem Vorhaben abbringt. Sie bittet ihre Mutter inständig, von einer Anzeige abzusehen, damit die Sache nicht in der Schule publik wird.
»Ein paar Klassenkameradinnen haben schon so was vermutet«, erzählt sie. »Und wenn Ruben nun entlassen wird, wissen alle, was los ist. Dann redet die ganze Schule darüber.«
»Bestimmt wird der Rektor diskret vorgehen, sodass die anderen glauben, Ruben habe aus freien Stücken gekündigt«, sagt Nadine.
»So was bleibt doch nicht geheim, Mam. Selbst wenn alles diskret abläuft … geklatscht wird immer. Und ich will auf keinen Fall auch noch zum Gespött der ganzen Schule werden.«
Marielles Argumente geben schließlich den Ausschlag. Auch wenn Nadine nichts lieber täte, als Ruben Offermans zur Rechenschaft zu ziehen - die Belange ihrer Tochter gehen vor. Widerwillig fügt sie sich.
»Hat Ruben noch mal mit dir gesprochen?«, erkundigt sich Nadine.
Ja, Ruben habe ihr erklärt, dass er einen Fehler gemacht habe, so ihre Tochter. Dass er nun einmal ihr Lehrer sei und weiter nichts. Jetzt behandle er sie wie alle anderen - was Nadine sehr erleichtert.
Es ist Montagabend, eine Woche nach ihrem Besuch bei Ruben. Eelco hat sich gerade verabschiedet, nach einem gemeinsam verbrachten Wochenende, das sie verlängert haben, indem sie sich beide den Montag freigenommen haben.
Nadine geht in die Küche, schenkt sich ein Glas Wein ein und trägt es ins Arbeitszimmer. Zum ersten Mal an diesem Wochenende schaltet sie ihren Computer ein. Als sie Outlook öffnet, verschluckt sie sich prompt an ihrem Wein.
Aurora. Eine Mail vom Aurora Verlag!
Mit angehaltenem Atem klickt sie die Mail an und wartet gespannt. Ausgerechnet jetzt erscheint eine kleine Sanduhr auf dem Bildschirm. Das Laden zieht sich hin. Nervös trommelt Nadine mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.
Dann erscheint endlich der Text. Nadine überfliegt die Zeilen:
Sehr geehrte Frau van Mourik,
Eelco van Ravensberg hat mir vor Kurzem Ihr Manuskript geschickt. Inzwischen bin ich dazu gekommen, es zu lesen, und es hat mich restlos überzeugt. Ich freue mich daher, Ihnen mitteilen zu können, dass Aurora Ihr Buch publizieren möchte.
Heute Nachmittag bin ich in einer Besprechung und daher leider nicht erreichbar. Dafür würde ich mich freuen, wenn Sie mich morgen anrufen.
Mit freundlichen Grüßen
Cynthia Goudriaan
Minutenlang starrt Nadine mit offenem Mund auf den Bildschirm, bis sie richtig begriffen hat, was diese Mail bedeutet. Dann überkommt sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
Nachdem sie den Text mehrmals gelesen hat, schickt sie die freudige Nachricht in die Welt hinaus - an alle, die ihr die Daumen gedrückt haben.
18
An einem warmen, sommerlichen Junitag kommt Nadine am Amsterdamer Hauptbahnhof an.
Der Aurora-Verlag liegt an einer Gracht in der Innenstadt. Langsam schlendert sie den Damrak entlang. Eine Straßenbahn nach der anderen saust vorbei, aber was soll’s: Sie hat eine eventuelle Zugverspätung einkalkuliert und daher noch reichlich Zeit bis zu ihrem Termin bei Cynthia Goudriaan.
Nadine genießt das bunte Treiben auf dem Dam, das Gewimmel der Touristen und eiligen Geschäftsleute. Eine Zeit lang betrachtet sie die lebenden Statuen auf dem Platz und amüsiert sich über eine Gruppe Japaner, die die grauen Stadttauben füttern und in der Wolke aus flatternden Flügeln fast verschwinden.
Nach einer Weile schlendert sie durch die Kalverstraat, biegt rechts in den Heiligeweg ein und geht in Richtung Leidsestraat. An der Brücke über die Keizersgracht sieht sie auf ihre Armbanduhr: 10 Uhr 36. Um elf soll sie bei Aurora sein, also erst in einer knappen halben Stunde.
Sie denkt an ihre Schreibfreunde, die alle höchst
überrascht waren, als sie die Mail mit der Erfolgsmeldung lasen. Leoni rief spontan an und versicherte, sie werde Nadines Roman, wenn er erst einmal erschienen sei, in den Buchhandlungen immer obenauf legen. Und Tom meinte, er wolle sich gleich mit einem ganzen Stapel eindecken und das Buch sämtlichen Freunden und Bekannten schenken.
Von Joella kam nur eine kurze Mail: Dein Buch wird also erscheinen - wer hätte das gedacht? Hoffentlich verkauft es sich auch gut.
Um sich die Zeit zu
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