Kalte Freundschaft
vage.
Sie trinkt einen Schluck Wasser direkt aus dem Hahn. Als sie sich aufrichtet, sieht sie im Spiegel das Gesicht einer Fremden - einer Fremden mit Blut im Haar, an den Wangen und am Hals. Am liebsten würde sie sich sofort unter die Dusche stellen, doch ihr wird klar, dass es Wichtigeres gibt: Sie muss der Sache nachgehen, darf sie nicht länger aufschieben, denn sie hat blutige Fußspuren auf der Treppe gesehen, die nach oben führen. Ihre eigenen Fußspuren.
Ein spannender Auftakt - Nadine ist zufrieden.
Seit der Rohfassung ihres Manuskripts hat sich viel getan. Den Prolog, der jetzt auf dem Monitor angezeigt wird, hat sie mehrfach überarbeitet. Mit dieser Eröffnungsszene hofft sie, die Verlage, denen sie ihr Manuskript schicken wird, zu überzeugen … und ihre künftigen Leser in die Geschichte hineinzuziehen.
So viel sie auch gestrichen und am Text gefeilt hat, etwas zu verbessern gibt es immer noch. Das ist ihr im Verlauf des Schreibkurses klar geworden.
»Klischees solltet ihr unbedingt vermeiden«, hatte Froukje ihnen ans Herz gelegt. »Redewendungen oder floskelhafte Formulierungen wie ›er warf ihr einen bohrenden Blick zu‹, ›es kam, wie es kommen musste‹ oder ›die Sonne stand hoch am Himmel‹
wirken abgedroschen. Eure Texte lesen sich viel besser, wenn ihr kreativ mit der Sprache umgeht und ungewöhnliche Bilder benutzt.«
All das hat Nadine beherzigt. Wenn ihr gute Metaphern und Wendungen einfallen, notiert sie diese in einem Heft - auch wenn sie nicht schreibt, ja gerade dann! Die besten Ideen kommen ihr beim Kochen, im Bad oder kurz vor dem Einschlafen. Das Heft ist zu ihrem ständigen Begleiter geworden.
Aber auch durch Lektüre hat sie eine Menge gelernt. Zahlreiche Bücher von Schriftstellern, die sie bewundert, sind inzwischen mit Anstreichungen und Randbemerkungen zu gelungenen Schilderungen oder flotten Dialogen versehen.
Beim Lesen achtet sie auch genau darauf, wie andere ihre Kapitelanfänge gestalten, Spannung aufbauen, die Handlung vorantreiben. Der Kurs bei Froukje hat ihr geholfen, das alles in die Praxis umzusetzen.
»Eine Geschichte darf nie aus einer bloßen Aneinanderreihung von Vorfällen bestehen«, hat Froukje immer wieder angemahnt. »Sie muss eine packende Handlung und vor allem ein Thema haben, beispielsweise eine Intrige, an der sich alles ›aufhängt‹. Jede Szene muss daraufhin überprüft werden, ob sie auch wirklich dem Fortgang der Handlung dient. Scheut euch nicht, bereits fertige Passagen wieder zu streichen. Denn genau darauf kommt es an: Was zwischen den Zeilen steht, sagt oft mehr aus als das tatsächlich Geschriebene.«
Nadine arbeitet bis zum Morgengrauen, mit einer Entschlossenheit, die sie so von sich gar nicht kennt. Es kommt ihr vor, als wären zwei Personen am Werk, als würde ihr zweifelndes unsicheres Ich immer mehr von einem selbstbewussten überflügelt. Nadine gerät in einen Flow , vergisst alles um sich herum, geht ganz in der Geschichte auf. Wie Sekt aus einer durchgeschüttelten Flasche sprühen die Ideen nur so aus ihr heraus.
Gegen sechs hat sie das letzte Kapitel abgeschlossen.
Todmüde steht sie auf und streckt die Glieder. Es ist vollbracht, sie ist fertig.
Am liebsten würde sie immer in der nächtlichen Stille schreiben, aber das ist nicht empfehlenswert, wenn man morgens zur Arbeit muss.
Zum Glück kann sie heute ausschlafen. Noch halb in ihrer Schreibtrance, geht sie die Treppe hinauf, schlüpft aus den Kleidern und legt sich in Unterwäsche ins Bett.
6
Am späten Vormittag scheint die Sonne direkt in Nadines Schlafzimmerfenster. Als sie die Augen aufschlägt, ist es taghell im Raum. Die Vorhänge sind zugezogen, doch der dünne Stoff lässt viel Licht durch.
Sie steht auf, zieht ihren rosa Bademantel an und geht nach unten. In der Küche wirft sie den Toaster an, und kurz darauf sitzt sie mit Kaffee, einem Marmeladentoast und der dicken Samstagszeitung am Esstisch. Als Erstes schlägt sie den Kulturteil auf. Seit vielen Jahren arbeitet sie für das Feuilleton des Leidsch Dagblad , und noch immer freut es sie, ihre Texte gedruckt zu sehen.
Als sie die Zeitung durchhat, geht sie nach oben, um sich anzuziehen und zu schminken.
Die Tür zu Marielles Zimmer steht offen, sie sitzt am Laptop und chattet auf MSN. Der Kontakt zur Außenwelt darf offenbar nie abreißen - jeder ruhige Moment wird umgehend mit Internetsurfen, Musik, Telefonaten oder Fernsehen gefüllt.
Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden,
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