Kalte Haut
Mark Brandenburg, aus dem in regelmäßigen Abständen stillstehende Windräder wie schlafende Riesen ragten. Nach zehn Minuten wechselten sie auf die Landstraße. Knappe fünf Kilometer weiter erreichten sie ein kleines Dorf, das nur aus wenigen Häusern, einer Kirche und einem Fleischerladen bestand. Bald darauf war es nur noch ein kaum erkennbarer Punkt im Rückspiegel.
Gesing bog auf einen holprigen Feldweg. Nach ein paar Dutzenden Metern vorbei an dicht stehenden, hohen Pappeln versperrte ihnen ein Tor die Weiterfahrt. Ungezähmt wucherten Sträuche und Büsche über die brüchige Steinmauer, die das Grundstück umgab.
Sera betätigte die Klingel, die neben dem Tor in die Mauer eingelassen war. Außer zwitschernden Vögeln und zirpenden Grillen war nichts zu hören. Von irgendwoher wehte der Wind das Knattern eines Traktors.
Blundermann spähte über die Mauer. »Scheint niemand da zu sein.«
»Siehst du ein Auto?«, fragte Sera.
»Nein, nicht einmal ein Fahrrad.«
»Irgendein anderes Lebenszeichen?«
»Das Haus erweckt nicht den Eindruck, als würde hier noch jemand leben wollen.«
»Gehen wir rein«, beschloss Sera.
»Wie? Ohne Durchsuchungsbeschluss?« Gesing kratzte sich das Kinn. »Glaubst du, das ist eine gute Idee?«
»Ich glaube, es ist Gefahr in Verzug.«
Ohne Gesings Antwort abzuwarten, schwang sich Sera über das Tor. So langsam bekam sie Routine darin. Die geprellte Rippe meldete zwar Protest an, aber der Schmerz war erträglich. Ihre beiden Kollegen folgten.
Blundermann hatte nicht übertrieben. Das Gebäude war alt und verwahrlost, die Steinwände fahl, rissig und durchdrungen von Feuchtigkeit, die Dachziegel an vielen Stellen von stürmischen Herbstwinden abgetragen.
»Jemand zu Hause?« Blundermann klopfte.
Knarzend schwang die Holztür auf. Abgestandene Luft schlug den Beamten entgegen. Mit gerümpften Nasen betraten sie die Datsche. Staub wirbelte auf, Sand knirschte unter ihren Schuhsohlen. Ein Großteil der Fliesen im Flur war zerbrochen. Die Einrichtung der links liegenden Küche schien mehrere hundert Jahre alt zu sein. Die Bierflaschen, die auf dem Boden standen, waren allerdings eindeutig neueren Datums. Was auch für die Essensreste galt, die auf dem Tisch verschimmelten. Es stank nach Alkohol, Dreck, Schweiß und Exkrementen.
Sera hielt sich die Nase zu.
Blundermann warf einen angewiderten Blick in das Badezimmer, aus dem der Fäkaliengeruch drang. »Der hätte ja wenigstens mal spülen können.«
»Lieber hat er in die Ecke gepinkelt.« Gesing wies auf einen gelben Fleck vor der Anrichte. In der Küchenspüle stapelte sich gebrauchtes Geschirr. »Scheint noch nicht lange her zu sein, dass er sich hier aufgehalten hat.«
»Zwei, drei Tage«, vermutete Sera.
»Guckt euch das mal an!« Blundermann war bis ins Wohnzimmer vorgestoßen. »Dagegen sind meine Bilder ja gar nichts.«
An den alten, feuchten Wänden klebten Dutzende von Fotos. Jede der Aufnahmen zeigte Tania Herzberg in unterschiedlichsten Momenten: am PC, am Backofen, auf dem Fahrrad, in einer Kneipe, erheitert, angestrengt, nachdenklich, lasziv, intim.
Auf dem Boden, zwischen dem durchgesessenen Sofa und dem alten Fernseher, verteilten sich Ausgaben von Tagesspiegel und Kurier . Artikel, die Tania Herzberg verfasst hatte, waren markiert, ausgeschnitten und sorgfältig beschriftet worden. Zudem gab es etliche Stoffpuppen, die vermutlich ihr gehört hatten, Kleidungsstücke, die sie getragen hatte. Dazu ein unüberschaubarer Wust anderer bizarrer Memorabilien –Schmuck, Bücher, CDs, Lebkuchenherzen, sogar ein Vibrator.
»Ist das Liebe?«, rätselte Blundermann.
»Das ist krank«, diagnostizierte Gesing.
»Keine Frage«, Blundermann öffnete die Hintertür und trat in den Garten, »aber angesichts dieser verwahrlosten Datsche frage ich mich doch: Haust so ein raffinierter Killer?«
»Ich bin gespannt, was Dr. Babicz davon hält«, sagte Sera. »Ich könnte mir vorstellen, dass er …«
Ihr Handy klingelte. Es war Dr. Salm. »Muth, haben Sie einen Fernseher in der Nähe?«
»Ich weiß nicht, ob das Gerät funktioniert.«
»Schalten Sie ihn ein! Schauen Sie die Nachrichten!«
81
Robert duschte abwechselnd heiß und kalt, um wach zu werden.
Als er sich in frische Klamotten warf, spürte er einen harten Gegenstand in der Hosentasche. Es war Hagens Schlüsselanhänger. Im Schein des Badezimmerlichts blitzte die Gravur auf: 12. November. Abermals fragte er sich, was das Datum zu bedeuten hatte. Ihn
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