Kalte Haut
»Dann freue ich mich auf morgen.«
53
Die Finsternis vor Seras Augen verflog nur zögerlich. Mühsam kämpfte sie sich auf die Knie, dann katapultierte sie der höllische Schmerz in ihrer Brust wieder zurück zu Boden. Doch für Wehklagen würde später noch genug Zeit sein. Aus der Moschee näherten sich unaufhaltsam Schritte.
Du musst hier weg!
Sera stolperte über klirrendes Metall. Überall aufgeregte Hunde. Sie zwang sich auf die Beine, taumelte vorwärts, sprang durch die erstbeste Hecke – und prallte gegen einen Maschendrahtzaun, der hinter dem Gestrüpp nicht zu erkennen gewesen war.
Verdammt!
Sera hangelte sich an ihm empor. Immer wieder schlugen ihr Äste und Blätter ins Gesicht, raubten ihr die Sicht, doch sie ließ sich nicht beirren. Fast hatte sie den Zaun überwunden, da verfing sich ihre Lederjacke in einer der Maschen. Fluchend griff sie nach dem tückischen Draht. Als das Leder sich nicht lösen wollte, zerrte sie mit aller Gewalt daran. Am Tor zur Moschee rasselten Schlüssel, jetzt ganz nahe. Seras Bemühen freizukommen wurde immer verbissener, verzweifelter.
Verdammt, jetzt lass endlich los! Mit einem lauten Ratsch riss die Jacke und gab Sera frei. Der Aufprall, mit dem sie auf der anderen Seite landete, erschütterte ihren ohnehin schon schmerzenden Körper. Sie japste nach Luft.
Los, beweg dich!
Sie hastete in das nächstbeste Gebüsch, robbte durch das Unterholz. Erst jetzt fielen ihr die Hunde ein. Was, wenn in diesem Garten … ? Blödsinn, dann wäre der Köter längst über dich hergefallen! Erleichtert presste sie sich auf den Boden. Ihre Rippen protestierten.
Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, um das Schwindelgefühl zu bekämpfen. Als Sera sie wieder öffnete, wurde gerade das Tor entriegelt. Aus der Moschee flutete Licht und erhellte den Pfad.
Seras Onkel war in der plötzlichen Helligkeit nur als Silhouette zu erkennen, ein mächtiger, schwarzer Fleck. Er schien sich genauestens umzusehen. Schließlich beugte er sich zu dem Gerüst hinab. Schnaufend verharrte er in dieser Stellung, zog etwas aus dem Durcheinander hervor und hielt es vor sich in der Hand. Einen Zettel? Sera hielt die Luft an. Habe ich den verloren?
Mergim spähte in die umliegenden Gärten, in deren Finsternis die Hunde sich allmählich beruhigten. In der Moschee scharrten hektische Schritte, eine Tür schlug zu. Ein paar Sekunden lang passierte nichts. Als jemand nach Seras Onkel rief, warf der den Zettel wieder auf die Überreste des Gerüsts, nachdem er ihn zerknüllt hatte. Dann kehrte er in das Gebäude zurück und schloss das Tor hinter sich.
Erleichtert rang Sera nach Luft. Sie wartete noch einige Minuten, in denen sie ihre Rippen untersuchte. Zum Glück schien es nur eine Prellung zu sein, aber es fühlte sich an, als wäre ihr ganzer Brustkorb entzweigebrochen. Durch das Rauschen in Seras Ohren sickerte ein Signalton. Eine SMS. Verdammt!
Wie auf ein Kommando erlosch in der Moschee das Licht. Überstürzt schaltete Sera ihr Handy aus. Sie wagte kaum zu atmen. Wieder wurde das Tor geöffnet, und wieder trat ihr Onkel ins Freie. Er verriegelte das Tor, bevor er zügig den Pfad zur Straße zurückschritt. Sehmus Gökcan war nicht bei ihm.
Sera schaute ihrem Onkel hinterher. Als er verschwunden war, rang sie nach Luft.
Was ging in der Moschee vor? Und was hatte das Türknallen zu bedeuten gehabt? War jemand geflohen? Etwa Sehmus Gökcan, zusammen mit seinem Sohn Amiel? Der Gedanke lag nahe. Aber vergiss nicht: Inzwischen geht es um mehr als nur Amiel Gökcan!
Sera hangelte sich über den Zaun zurück. Jede Bewegung war eine Qual. Sie hockte sich neben die Trümmer des Gerüsts und fischte den zerknüllten Zettel hervor. In krakeliger Schrift hatte jemand geschrieben: Gerüst bitte nicht betreten! Noch nicht gesichert! Wäre der Schmerz in ihrer Brust nicht so heftig gewesen, Sera hätte gelacht.
Für den Weg zurück zum Landwehrkanal brauchte sie eine halbe Ewigkeit. Um sich abzulenken, schaltete sie ihr Handy wieder ein. Die SMS stammte von Gerry. Und? Was ist mit morgen? G.
Sera tippte eine Antwort. Am Wochenende ist schlecht. Du weißt doch: Mein Vater feiert Geburtstag. S.
Dann dachte sie an das morgige Fest. Ihre ganze Familie würde anwesend sein, ihre Geschwister, die Nichten und Neffen. Auch Mergim. Dein Onkel. Sera wollte ihre Antwort-SMS schon löschen und eine neue schreiben, doch als sie ihren Wagen am Paul-Linke-Ufer erreichte, schaute sie hoch zur Wohnung von
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