Kalte Haut
deutet alles darauf hin. Das heißt aber nicht, dass es tatsächlich so ist.«
Oberstaatsanwalt Heindl verschränkte die Arme vor der Brust. In den Hemdfalten unter seinen Achselhöhlen hatten sich Schweißflecken gebildet. »Was meinen Sie damit?«
Eine durchaus berechtigte Frage. Sera griff nach einer Flasche, goss sich das Selters ins Glas und genoss das frische Prickeln in der Kehle. Worauf will Dr. Wittpfuhl hinaus? Augenblicklich schien das Wasser wieder aus ihren Poren zu quellen. War es tatsächlich so warm in dem Raum, oder lag es nur an ihren Sorgen? Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den Psychologen. Und was weiß Dr. Babicz?
Der Gerichtsmediziner sortierte seine Fotos, schichtete sie zu einem ordentlichen Haufen, den er aufnahm und an der Tischplatte geradeklopfte. Dann breitete er ihn zum Fächer aus und wedelte sich damit frische Luft zu.
»Wie ich schon sagte: Die Verletzungen erwecken den Eindruck, als hätte man dem jungen Mann grobschlächtig die Haut vom Körper gerissen. Sehen Sie die Einschnitte hier und hier … « Er blätterte durch die Fotos, bis er die richtigen Bilder gefunden hatte. »Als wäre mit dem Messer wie von Sinnen herumgeschnitten worden. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das Gegenteil der Fall ist. Der Täter wusste sehr genau, was er tat und wie er es zu tun hatte.« Jetzt zeigte er zwei hochaufgelöste Makroaufnahmen. »Schauen Sie hier: Die Häutung ist überaus geschickt durchgeführt worden.«
»Überaus geschickt? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« Dr. Salm ächzte.
Ausnahmsweise musste Sera dem Chef beipflichten. Der Anblick des blutroten Fleisches auf den Fotos ließ wahrlich keine besondere Raffinesse des Mörders erkennen. Aber bist du Ärztin?
Der Gerichtsmediziner nickte. »Ich verstehe Ihre Zweifel, ich habe mich ja selbst zunächst täuschen lassen. Aber schauen Sie, nur die Epidermis, Dermis und Subcutis sind grob verletzt –die Faszie der Muskeln aber ist erhalten geblieben. Darauf ist akkurat geachtet worden.«
»Jetzt bitte noch einmal ohne Latein!«, schimpfte der Chef.
Babicz antwortete ihm: »Im Klartext: Die Haut- und die darunter liegende Fettschicht sind beschädigt worden, aber nicht das Muskelgewebe. In dieser Weise werden auch Tiere fachmännisch gehäutet. Wer immer für diese grässliche Tat verantwortlich ist, er versteht sein Handwerk. Und mehr als das, er war sogar in der Lage, sein Können zu verschleiern.«
»Moment, verstehe ich Sie richtig?« Sera atmete hörbar durch. »Der Täter möchte uns glauben machen, der Mord an dem jungen Lahnstein sei von Leuten verübt worden, die wütend auf den Innensenator sind? Die ihn so sehr hassen, dass sie ihn und seine Familie nicht nur mit dem Tod bedrohen, sondern ihre Drohung sogar realisieren?«
»Ja«, gab Babicz knapp zurück.
In ihrer Verwirrung vergaß Sera sogar den Schmerz in ihrer Brust. Wenn das die Erkenntnis war, die der Gerichtsmediziner bei der Obduktion gewonnen hatte, was mochte Babicz dann in den Akten entdeckt haben? Wie passt das zu deinem Verdacht?
»Nun«, wandte der Staatsanwalt ein. »Wenn der Täter aber doch, wie Sie behaupten, Experte in dem Fach ist, muss ihm doch auch klar gewesen sein, dass diese ›Verschleierung‹ spätestens bei der Obduktion auffliegt.«
»Stimmt, das wird ihm von Anfang an bewusst gewesen sein«, gab Babicz zu.
Heindl sah ihn irritiert an. »Ja, aber wozu dann der ganze Aufwand?«
56
»Hast du die Nacht etwa im Verlag verbracht?« Tania beugte sich über ihren Schreibtisch, auf dem Hardy Sackowitz’ Oberkörper ruhte.
Ihrem Kollegen stand das Haar struppig zu Berge, seine Hose war fleckig, von seinem Hemd ging der schale Geruch erkalteter Pizza aus. Der Karton mit der abgenagten Rinde ragte aus dem übervollen Papierkorb.
»Tania«, rief Sackowitz überrascht, »was machst du hier?«
»Das frage ich dich !«
»Was denkst du denn?« Müde lächelnd beschrieb er mit der Hand einen Kreis durch das Großraumbüro.
Obwohl es Samstag war, herrschte in der Redaktion des Berliner Kurier reger Betrieb. Üblicherweise bedeutete ein Sonnabend für die Journalisten einer Tageszeitung eine Produktion mit halber Kraft, weil sonntags keine Ausgabe erschien. Andererseits wurde nicht jeden Tag der Sohn eines Politikers entführt und grausam ermordet – und dann auch noch quasi frei Haus in die Redaktion geliefert.
»Das ist mir schon klar«, sagte Tania. »Was ich eigentlich wissen wollte: Was hast du an meinem Rechner zu
Weitere Kostenlose Bücher