Kalte Herzen
Großmutter bei ihr lebte? Allein der Radau würde Abby verrückt machen.
»Am Ende weist doch alles auf Victor Voss«, sagte Abby. »Er wird so oder so Rache nehmen.«
»Warum hat er dann die Klagen fallengelassen? Das ergibt keinen Sinn. Erst setzt er Dampfwalzen gegen Sie in Marsch, und dann bleiben sie plötzlich alle stehen.«
»Anstatt allenthalben verklagt zu werden, wirft man mir einen Mord vor. Eine wirklich große Alternative.«
»Aber sehen Sie nicht, daß das keinen Sinn ergibt? Voss hat wahrscheinlich eine Menge Geld dafür bezahlt, diese Klagen ins Rollen zu bringen. Er würde sie nicht einfach so fallenlassen, es sei denn, er macht sich Sorgen wegen möglicher Konsequenzen.
Einer Gegenklage beispielsweise. Hatten Sie etwas Derartiges geplant?«
»Ich habe mit meinem Anwalt darüber gesprochen, aber er hat mir abgeraten.«
»Warum hat Voss die Klagen dann fallenlassen?«
Auch für Abby ergab das Ganze keinen Sinn.
Auf dem Heimweg von Vivians Haus in Melrose dachte sie immer noch darüber nach. Es war später Nachmittag, und der Verkehr auf der Route l war so dicht wie üblich. Obwohl es nieselte, hatte sie ihr Fenster heruntergekurbelt. Der Gestank verwesender Schweineorgane hing noch immer in ihrem Wagen, und sie glaubte nicht, daß er je wieder ganz verschwinden würde. Er würde für immer da bleiben, eine permanente Erinnerung an Victor Voss’ Zorn.
Vor ihr lag die Tobin Bridge – ein Ort, an dem Lawrence Kunstler beschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Sie bremste ab. Vielleicht war es eine Art morbider Zwang, der sie veranlaßte, zur Seite und auf das Wasser zu blicken, als sie auf die Brücke fuhr. Unter dem verhangenen Himmel sah der Fluß schwarz aus, seine Oberfläche war vom Wind aufgewühlt.
Tod durch Ertrinken wäre bestimmt nicht die Todesart, für die sie sich entscheiden würde. Die Panik, die zappelnden Gliedmaßen, die Kehle, die sich gegen den Schwall kalten Wassers zuschnürte. Ob Kunstler noch bei Bewußtsein gewesen war, als er auf dem Wasser aufschlug? Auch an Aaron dachte sie.
Zwei Ärzte, zwei Selbstmorde. Sie hatte vergessen, Vivian nach Kunstler zu fragen. Wenn er vor sechs Jahren gestorben war, hatte sie vielleicht von ihm gehört.
Abbys Blick wurde vom Wasser so gefesselt, daß sie nicht bemerkte, wie der Wagen vor ihr abbremste, weil sich der Verkehr vor dem Mauthäuschen staute. Als sie wieder auf die Straße blickte, sah sie, daß der Wagen vor ihr stand.
Sie trat auf die Bremse. Einen Moment später wurde ihr Wagen von hinten angefahren. Abby blickte in den Rückspiegel und sah hinter sich eine Frau, die entschuldigend den Kopf schüttelte. Einen Moment lang stand der Verkehr auf der Brücke still. Abby stieg aus und lief nach hinten, um den Schaden zu begutachten.
Die andere Frau stieg auch aus. Sie blieb nervös neben Abby stehen, als sie sich bückte, um die hintere Stoßstange zu betrachten.
»Sieht unbeschädigt aus«, sagte Abby. »Nichts passiert.«
»Tut mir leid, ich habe wohl nicht richtig aufgepaßt.«
Abby warf einen Blick auf den Wagen der Frau und erkannte, daß dessen vordere Stoßstange ebenfalls unbeschädigt war.
»Das ist mir wirklich peinlich«, bemerkte die Frau. »Ich war so damit beschäftigt, im Rückspiegel den Typ zu beobachten, der an meiner Stoßstange hing«, sie wies auf einen braunen Van, der hinter ihrem Wagen wartete, »daß ich am Ende selbst aufgefahren bin.«
Irgend jemand hupte. Der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung. Abby stieg in ihren Wagen und fuhr weiter. Als sie an dem Mauthäuschen vorbeifuhr, mußte sie sich unwillkürlich ein letztes Mal zu der Brücke umdrehen, von der Lawrence Kunstler seinen tödlichen Sprung getan hatte. Sie kannten sich, Aaron und Kunstler. Sie hatten zusammen gearbeitet. Sie hatten zusammen diesen Artikel geschrieben.
Der Gedanke ließ sie nicht mehr los, als sie den Straßen Richtung Cambridge folgte.
Zwei Ärzte aus demselben Transplantationsteam, und beide hatten Selbstmord begangen.
Ob Kunstler eine Witwe hinterlassen hatte, und ob Mrs. Kunstler genauso verwirrt gewesen war wie Elaine Levi?
Sie machte einen Bogen um das Harvard Common, bog in die Battle Street und blickte zufällig in den Rückspiegel.
Hinter ihr fuhr ein brauner Van, der ebenfalls in die Battle einbog.
Nach dem nächsten Block, an der Wilard Street, sah sie wieder in den Spiegel. Der Van war noch immer da. War es der Van von der Brücke? Sie hatte ihn in dem Moment kaum beachtet und sich
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