Kalte Herzen
Öffentlichkeit kommt. Halte durch, Abby. Wettig tut sein Möglichstes, daß du wieder eingestellt wirst.«
Sie brauchte eine Weile, bis sie sich gefaßt hatte. Als sie schließlich weitersprach, war ihre Stimme leise, aber fest:
»Mark, was ist, wenn Mary Allen wirklich ermordet wurde?
Dann sollte es eine Ermittlung geben! Wir sollten von uns aus zur Polizei gehen.«
»Willst du das wirklich tun?«
»Ich weiß nicht. Ich denke nur immer wieder, daß es das ist, was wir tun sollten. Daß wir dazu verpflichtet sind.
Ethischmoralisch.«
»Die Entscheidung liegt bei dir. Aber ich möchte, daß du lange und gründlich über die Konsequenzen nachdenkst.«
Das hatte sie bereits. Sie hatte das Medieninteresse und die Möglichkeit einer Verhaftung erwogen. Sie hatte hin und her überlegt, wohlwissend, was sie tun sollte, aber zu ängstlich, um zu handeln. Ich bin ein Feigling. Meine Patientin ist tot, vielleicht ermordet, und ich mache mir nur Sorgen darum, wie ich meine eigene verdammte Haut retten kann, dachte sie manchmal.
Die Krankenhausbibliothekarin betrat den Raum. Sie schob einen quietschenden Bücherwagen vor sich her und setzte sich an ihren Schreibtisch, wo sie begann, die Bücher aufzuschlagen und abzustempeln.
»Abby«, sagte Mark. »Bevor du irgendwas unternimmst, denk nach!«
»Wir sprechen uns später. Ich muß jetzt Schluß machen.« Sie legte auf und ging zu dem Tisch mit den Stapeln von fotokopierten Artikeln zurück. Das war ihre ganze Arbeit für heute.
Sie hatte den Vormittag damit zugebracht, diesen Haufen von Papier zusammenzutragen. Sie war eine Ärztin, die nicht mehr praktizieren durfte, eine Chirurgin, die man aus dem Operationssaal verbannt hatte. Die Schwestern und das übrige Klinikpersonal wußten nicht, was sie davon halten sollten. Sie war sich sicher, daß die Gerüchteküche schon brodelte. Als sie heute morgen auf der Suche nach Dr. Wettig durch die Stationen gekommen war, hatten sich alle Schwestern nach ihr umgedreht.
Was sie hinter ihrem Rücken flüsterten? Abby hatte Angst, es zu erfahren.
Das rhythmische Geräusch des Stempeins hatte aufgehört.
Abby wurde bewußt, daß die Bibliothekarin von ihren Büchern aufgeblickt hatte und sie musterte.
Wie jeder andere in diesem Krankenhaus fragt sie sich, was mit mir los ist, schoß es ihr durch den Kopf.
Abby errötete, sammelte ihre Papiere zusammen und ging zum Tisch der Bibliothekarin.
»Wie viele Kopien sind es?«
»Sie sind alle für Dr. Wettig? Die gehen auf das Kontingent des Assistenzarztprogramms.«
»Ich muß trotzdem die genaue Zahl wissen, um sie eintragen zu können. Das ist das übliche Verfahren.«
Abby setzte die Papierstapel ab und fing an, die Seiten zu zählen. Sie hätte es sich denken können, daß die Bibliothekarin darauf bestehen würde. Diese Frau war schon seit Ewigkeiten am Bayside und hatte es nie versäumt, jedem neuen Jahrgang von Assistenzärzten klarzumachen, daß die Dinge in diesem Raum nach ihren eigenen Vorstellungen gehandhabt wurden.
Abby wurde langsam wütend. Auf diese Bibliothekarin, auf das Krankenhaus und auf das Chaos, zu dem ihr Leben geworden war. Schließlich hatte sie auch den letzten Artikel durchgezählt.
»Zweihundertvierzehn Seiten«, sagte sie und knallte den letzten Haufen auf den Stapel. Auf der obersten Seite sprang ihr der Name »Dr. med. Aaron Levi« ins Auge. Der Titel des Artikels lautete: »Vergleichende Studie zur Überlebensrate bei Herztransplantationen von schwerkranken und ambulanten Organempfängern.« Die Autoren waren Aaron, Rajiv Mohandas und Lawrence Kunstler. Sie starrte auf Aarons Namen, aufgewühlt durch die unerwartete Erinnerung an seinen Tod.
Auch die Bibliothekarin hatte Aarons Namen gelesen und schüttelte den Kopf. »Schwer zu glauben, daß Dr. Levi nicht mehr da ist.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, murmelte Abby.
»Und diese beiden Namen über einem Artikel zu sehen.« Die Frau schüttelte wieder den Kopf.
»Verzeihung?«
»Na, Dr. Kunstler und Dr. Levi!«
»Dr. Kunstler kenne ich nicht.«
»Oh, das war vor Ihrer Zeit.« Die Bibliothekarin klappte das Kopierverzeichnis zu und schob es ordentlich in ihr Bücherregal. »Es muß mindestens sechs Jahre her sein.«
»Was war vor sechs Jahren?«
»Es war genau wie in dem Fall Charles Stuart. Wissen Sie, der Mann, der von der Tobin Bridge gesprungen ist. Dort ist auch Dr. Kunstler gesprungen.«
Abby blickte wieder auf den Artikel und die beiden Namen oben auf der ersten Seite. »Er
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