Kalte Herzen
machten dicht; in so etwas sah sie keine Zukunft, zumindest in Boston nicht. Und in Boston wollte sie bleiben.
Wo Mark war.
»Ich will es unbedingt«, betonte Abby. »Ich hoffe, ich enttäusche euch alle nicht.«
»Ausgeschlossen. Das Team weiß, was es will. Wir halten zusammen.«
Sie schwieg einen Moment. »Auch Aaron Levi?« fragte sie dann.
»Aaron? Warum sollte er nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich habe heute abend mit seiner Frau geredet, Elaine. Ich hatte den Eindruck, daß Aaron nicht besonders glücklich ist. Wußtest du, daß er daran denkt, wegzugehen?«
»Was?« Mark sah sie überrascht an.
»Er hat davon gesprochen, in eine Kleinstadt zu ziehen.«
Er lachte. »Das wird nie passieren. Elaine ist ein Bostoner Mädchen.«
»Es war auch nicht Elaine, es war Aaron, der daran gedacht hatte.«
Eine Weile fuhr Mark, ohne eine Wort zu sagen. »Das mußt du mißverstanden haben«, sagte er schließlich.
Sie zuckte die Schultern. »Schon möglich.«
»Licht, bitte«, bat Abby. Eine Krankenschwester griff nach oben und rückte die OP-Lampe so zurecht, daß ihr Strahl direkt auf die Brust der Patientin fiel. Der Verlauf des Operationsschnitts war mit schwarzem Marker auf die Haut gezeichnet worden: zwei kleine Kreuze, verbunden durch eine Linie, die entlang der Oberkante der fünften Rippe verlief. Es war eine schmächtige Brust, eine schmächtige Frau. Sie war vierundachtzig Jahre alt, verwitwet und vor einer Woche im Bayside-Hospital aufgenommen worden, weil sie über extremen Gewichtsverlust und massive Kopfschmerzen geklagt hatte.
Die routinemäßige Röntgenaufnahme hatte einen alarmierenden Befund erbracht: vielfältige Verschattungen in beiden Lungen. Sechs Tage lang war sie untersucht, beobachtet und geröntgt worden. Man hatte sie bronchoskopiert und eine Nadelbiopsie durch die Thoraxwand hindurch gemacht, doch die Diagnose war weiterhin unklar.
Heute würden sie die Antwort erfahren.
Dr. Wettig nahm das Skalpell zur Hand und hielt es über die Schnittstelle. Abby wartete darauf, daß er den Schnitt vornahm, doch das tat er nicht. Statt dessen sah er Abby an, seine Augen über der Maske strahlten hart und metallisch blau.
»Bei wie vielen Lungenbiopsien haben Sie schon assistiert, DiMatteo?«
»Fünf, glaube ich.«
»Sind Sie mit der Krankengeschichte dieser Patientin vertraut?
Kennen Sie die Thoraxaufnahmen?«
»Ja, Sir.«
Wettig hielt ihr das Skalpell hin. »Dann ist das Ihre Patientin.«
Abby betrachtete überrascht das in seiner Hand blitzende Skalpell. Der General gab die Klinge nur selten aus der Hand, nicht einmal an seine fortgeschrittenen Assistenzärzte.
Sie nahm das Skalpell und fühlte, wie sich das Gewicht des blanken Stahls angenehm in ihre Hand schmiegte. Mit sicheren Handbewegungen machte sie den ersten Schnitt. Während sie an der Oberkante der Rippe entlangglitt, zog sie die Haut völlig straff. Die Patientin war dünn, fast mager. Es gab unter der Haut kaum Fettgewebe, das die Markierungen hätte verzerren können.
Ein zweiter, weniger tiefer Schnitt teilte die Muskeln zwischen den Rippen. Jetzt war sie im Brustkorb.
Sie schob einen Finger in den Schnitt und konnte das weiche, schwammige Lungengewebe spüren. »Alles in Ordnung?«
fragte sie den Anästhesisten.
»Bestens.«
»Dann öffnen«, sagte Abby.
Die Rippen wurden auseinandergespreizt, so daß der Schnitt sich weitete. Die Beatmungsmaschine gab erneut einen Atemimpuls, und ein kleines Lungensegment wurde wie ein Ballon durch den Spalt nach außen gepreßt. Abby faßte das noch immer mit Luft gefüllte Gewebe mit einer Klemme.
Wieder warf sie dem Anästhesisten einen Blick zu. »Immer noch alles in Ordnung?«
»Keine Probleme.«
Abby konzentrierte sich auf das herausgezogene Stück Lungengewebe. Sie brauchte nur einen Augenblick, um einen der Knoten zu entdecken, und strich mit dem Finger darüber.
»Fühlt sich ziemlich fest an«, bemerkte sie. »Nicht gut.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Wettig. »Schon auf den Röntgenaufnahmen sah sie aus wie eine Spezialkandiatin für die Chemotherapie. Wir bestätigen nur den Zellentypus.«
»Und die Kopfschmerzen? Hirnmetastasen?«
Wettig nickte. »Sehr aggressiv. Noch vor acht Monaten zeigten die Thoraxaufnahmen keinerlei Auffälligkeiten. Jetzt ist sie die reinste Krebsfarm.«
»Sie ist vierundachtzig«, sagte eine der Schwestern.
»Wenigstens hatte sie ein langes Leben.«
Aber was für ein Leben, fragte Abby sich, als sie das Lungensegment mit
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