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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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nachmittags, einundsechzig Stunden, nachdem ein betrunkener Fahrer frontal mit Karen Terrios Wagen zusammengeprallt war. Karen war vierunddreißig Jahre alt, HIV negativ und karzinom- und infektfrei. Außerdem war sie hirntot. Kurz: Sie war ein lebender Supermarkt gesunder Spenderorgane. Herz und Lunge, Nieren, Bauchspeicheldrüse, Leber, Knochen, Augenhornhaut und Haut. Mit einer einzigen schrecklichen Entnahme konnte ein halbes Dutzend Leben gerettet oder zumindest verbessert werden.
    Abby zog sich einen Hocker heran und nahm Joe Terrio gegenüber Platz. Sie war die einzige Ärztin, die überhaupt länger mit ihm gesprochen hatte. Deswegen hatte die Schwester sie auch jetzt gerufen, um mit ihm zu reden. Um ihn zu überzeugen, die Papiere zu unterschreiben und seine Frau sterben zu lassen. Eine Weile saß sie schweigend bei ihm.
    Zwischen ihnen lag Karen Terrios Körper. Ihre Brust hob und senkte sich durch zwanzig künstliche Atemzüge pro Minute.
    »Sie haben recht, Joe«, sagte Abby. »Ihr Herz ist stark. Es könnte noch eine Weile weiterschlagen. Aber nicht ewig.
    Irgendwann weiß es der Körper. Er versteht es.«
    Joe sah sie mit von Tränen und Schlaflosigkeit rot geränderten Augen an. »Er versteht?«
    »Daß das Hirn tot ist. Daß das Herz keinen Grund hat, weiterzuschlagen.«
    »Woher sollte es das wissen?«
    »Wir brauchen unser Gehirn. Nicht nur, um zu denken und zu fühlen, sondern auch, um dem Rest des Körpers einen Zweck zu geben. Wenn dieser Zweck nicht mehr da ist, hören Herz und Lungen auf zu funktionieren.« Abby blickte zu dem Beatmungsgerät. »Die Maschine atmet für sie.«
    »Ich weiß.« Joe fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
    »Ich weiß, ich weiß, ich weiß!«
    Abby sagte nichts. Joe wiegte sich jetzt auf seinem Stuhl hin und her, die Hände in seinen Haaren vergraben, während er leise schluchzte und wimmerte, das Nächste an Weinen, was sich ein Mann erlauben konnte. Als er den Kopf wieder hob, standen einzelne Haarbüschel vor Tränen feucht und steif ab.
    Er blickte wieder auf den Monitor, offenbar der einzige Punkt in dem Raum, den anzustarren ihm Sicherheit gab. »Es kommt mir nur irgendwie verfrüht vor.«
    »Das ist es nicht. Es bleibt nur eine gewisse Zeitspanne, bis die Organe aussetzen. Dann kann man sie nicht mehr verpflanzen. Und das hilft niemandem, Joe.«
    Er blickte sie über den Körper seiner Frau hinweg an. »Haben Sie die Papiere mitgebracht?«
    »Ich habe sie bei mir.«
    Er sah die Formulare kaum an, sondern setzte nur seinen Namen darunter und gab sie ihr zurück. Eine Schwester der Intensivstation und Abby waren Zeugen. Kopien des Formulars würden in Karen Terrios Krankenakte abgelegt und auch an die New England Organ Bank, kurz NEOB, und zu den Akten der Koordinationsstelle für Transplantationen am Bayside-Hospital gehen. Die Organe konnten entnommen werden.
    Und lange nachdem Karen Terrio beerdigt war, würden Teile von ihr weiterleben. Das Herz, das sie einst in ihrer Brust schlagen spürte, als sie mit fünf gespielt, mit zwanzig geheiratet und mit einundzwanzig ihre Kinder geboren hatte, würde in der Brust eines Fremden weiterschlagen. Es war so nahe, wie irgend jemand an die Unsterblichkeit nur herankommen konnte.
    Aber es war kaum genug, um Joe Terrio zu trösten, der seine stille Wache am Bett seiner Frau fortsetzte.
    Abby fand Vivian Chao im Umkleideraum des Operationssaals. Vivian hatte gerade eine Notoperation hinter sich, doch nicht ein einziger Schweißtropfen beschmutzte den OP-Anzug, der neben ihr auf der Bank lag.
    »Wir haben die Zustimmung zur Entnahme«, sagte Abby.
    »Die Papiere sind unterschrieben?« fragte Vivian.
    »Ja.«
    »Gut. Ich lasse einen Lymphozytenkreuzvergleich machen.«
    Vivian griff nach einem sauberen OP-Hemd. Sie trug nur ihren BH und einen Slip, und jede ihrer Rippen zeichnete sich einzeln unter der Haut ihrer flachen, mageren Brust ab. Männliche Qualitäten sind doch eher ein Geisteszustand, dachte Abby, keine körperliche Befindlichkeit. »Wie ist ihr Zustand?«
    erkundigte sich Vivian.
    »Stabil.«
    »Wir müssen ihren Blutdruck konstant halten und die Nieren durchbluten. Schließlich kommt nicht alle Tage ein nettes Paar Nieren AB positiv vorbei.« Vivian zog sich eine weite Bundhose über und steckte das Hemd hinein. Jede ihrer Bewegungen war präzise und elegant.
    »Werden Sie bei der Entnahme assistieren?« fragte Abby.
    »Wenn mein Patient das Herz bekommt, ja. Die Entnahme ist der einfache Teil.

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