Kalte Herzen
Interessant wird es erst, wenn es daran geht, die Pumpe wieder anzuschließen.« Vivian schloß die Spindtür und ließ das Vorhängeschloß zuschnappen. »Haben Sie einen Moment Zeit? Dann stelle ich Ihnen Josh vor.«
»Josh?«
»Meinen Patienten im Studentenkurs. Er liegt oben auf der Intensivstation.«
Sie verließen zusammen den Umkleideraum und gingen den Flur hinunter bis zum Fahrstuhl. Vivian machte ihre kurzen Beine durch rasche, fast grimmige Schritte wett. »Man kann den Erfolg einer Herztransplantation nicht beurteilen, wenn man nicht das Vorher und das Nachher gesehen hat«, meinte Vivian.
»Also werde ich Ihnen das Vorher zeigen. Vielleicht macht es Ihnen die Sache leichter.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ihre Frau hat ein Herz und kein Hirn. Mein Junge hat ein Gehirn und praktisch kein Herz mehr.« Die Fahrstuhltür öffnete sich und Vivian betrat die Kabine. »Wenn man erst einmal über die Tragödie hinweg ist, ergibt alles einen Sinn.«
Sie fuhren schweigend nach oben.
Natürlich ergibt es Sinn, dachte Abby. Es ergibt sogar einen perfekten Sinn. Vivian sieht das ganz klar. Aber ich komme scheinbar nicht über das Bild zweier kleiner Mädchen hinweg, die am Bett ihrer Mutter stehen und Angst haben, sie anzufassen.
Vivian ging voran in die internistische Intensivstation. Joshua O’Day lag in Bett vier.
»Er schläft sehr viel im Moment«, flüsterte die Krankenschwester, eine Blondine mit niedlichem Gesicht, auf deren Namensschild »
Hannah Love
« stand.
»Veränderte Medikamentation?« fragte Vivian.
»Ich glaube, es sind Depressionen.« Hannah schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich betreue ihn jetzt seit zwei Wochen. Er ist ein großartiger Junge, wissen Sie, wirklich nett und ein bißchen verschusselt. Aber in letzter Zeit schläft er nur noch. Oder er starrt seine Pokale an.« Sie wies mit dem Kopf auf den Nachttisch, wo eine Sammlung verschiedenster Pokale und Ehrungen liebevoll arrangiert war. Eine Medaille war noch aus seinem dritten Jahr in der Grundschule – eine ehrenvolle Erwähnung für die Teilnahme an einem Pinewood-Derby der Jungpfadfinder. Mit Pinewood-Derbies kannte Abby sich aus.
Wie Joshua O’Day war auch ihr Bruder Wölfling gewesen.
Abby trat ans Bett. Der Junge sah viel jünger aus, als sie erwartet hatte. Laut Geburtsdatum auf Hannah Loves Behandlungsplan war er siebzehn, doch er hätte auch für vierzehn durchgehen können. Ein Gewirr von Plastikschläuchen umgab sein Bett. Es waren Infusionsschläuche, Arterien- und Swan-Ganz-Katheter, letztere zur Messung des Arteriendrucks im rechten Herzvorhof und Lungenflügel. Auf dem Monitor über dem Bett konnte Abby den Druck im rechten Herzvorhof ablesen.
Er war sehr hoch. Das Herz des Jungen war zu schwach, um wirkungsvoll zu pumpen, und in seinem venösen System hatte sich Blut angestaut. Durch einen Blick auf die Halsvenen war sie auch ohne den Monitor zum selben Schluß gekommen: Sie standen deutlich hervor.
»Sie sehen den Baseballstar der Redding High School von vor zwei Jahren«, erläuterte Vivian. »Ich bin keine Baseball-Spezialistin und kann seine Schlagstatistik nicht beurteilen.
Aber sein Dad scheint sehr stolz darauf zu sein.«
»Oh, und ob sein Dad stolz ist«, fiel Hannah ein. »Er war neulich mit einem Ball und einem Fanghandschuh hier. Ich mußte ihn rauswerfen, als sie hier im Krankenzimmer anfingen, sich den Ball zuzuwerfen«, lachte sie. »Der Vater ist genauso verrückt wie der Junge.«
»Wie lange ist er schon krank?« fragte Abby.
»Er war seit einem Jahr nicht mehr in der Schule«, führte Vivian aus. »Der Virus hat ihn vor etwa zwei Jahren befallen.
Coxsackie Virus B. Binnen eines halben Jahres litt er an Stauungsinsuffienz. Er liegt jetzt seit einem Monat auf der Intensivstation.« Vivian machte eine Pause und lächelte. »Habe ich recht, Josh?«
Die Augen des Jungen waren offen. Er schien wie durch Schichten von Gaze hindurchzusehen, blinzelte ein paarmal und lächelte dann Vivian an. »Hallo, Dr. Chao.«
»Ich sehe ein paar neue Medaillen«, sagte Vivian.
»Ach, die.« Josh verdrehte die Augen. »Ich weiß nicht, wo meine Mom die überall ausgräbt. Sie bewahrt alles auf, müssen Sie wissen. Sie hat sogar noch eine Plastiktüte mit meinen Milchzähnen. Ich finde das ziemlich eklig.«
»Tosh, ich habe jemanden mitgebracht, der dich kennenlernen möchte. Das ist Dr. DiMatteo, eine unserer chirurgischen Assistenzärztinnen.«
»Hallo, Josh«, grüßte Abby.
Der junge schien eine
Weitere Kostenlose Bücher