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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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dem Knoten zurückschob. Sie hatte Mary Allen gestern zum ersten Mal gesehen. Die Frau hatte still und reglos in ihrem Krankenzimmer gesessen. Die Vorhänge waren zugezogen, der Raum lag im Halbdunkel. »Wegen der Kopfschmerzen«, hatte Mary erklärt. »Die Sonne tut meinen Augen weh. Nur wenn ich schlafe, gehen die Schmerzen weg.
    So viele verschiedene Arten von Schmerz … Bitte, Doktor, kann ich nicht ein stärkeres Schlafmittel bekommen?«
    Abby schnitt den Knoten heraus und nähte das durch den Schnitt verletzte Lungengewebe. Wettig ließ es kommentarlos geschehen. Er sah ihr bei der Arbeit zu, sein Blick war kühl wie immer. Doch sein Schweigen war Kompliment genug. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß es bereits ein Triumph war, von der Kritik des Generals verschont zu bleiben.
    Als die Brust schließlich wieder geschlossen und der Absaugschlauch angebracht war, streifte Abby sich die blutigen Handschuhe ab und warf sie in einen Eimer mit der Aufschrift »Kontaminiert«.
    »Jetzt kommt der schwierige Teil«, seufzte sie, als die Schwestern die Patientin aus dem OP rollten. »Ihr die schlechte Nachricht zu überbringen.«
    »Sie weiß es«, winkte Wettig ab. »Sie wissen es immer.«
    Sie folgten der Liege in den Aufwachraum. Vier frisch operierte Patienten in verschiedenen Zuständen der Bewußtheit belegten die durch Vorhänge abgeteilten Stellplätze. Mary Aliens Bett stand auf dem letzten, und die Patientin begann gerade, sich zu rühren. Sie bewegte ihren Fuß, stöhnte und versucht, ihre fixierte Hand loszureißen.
    Abby horchte mit einem Stethoskop rasch die Lungen der Patientin ab und sagte dann: »Geben Sie Ihr fünf Milligramm Morphium, intravenös.«
    Die Schwester bereitete eine Infusion mit Morphiumsulfat vor, gerade genug, um die Schmerzen zu betäuben, der Patientin aber gleichzeitig eine sanfte Rückkehr in den Wachzustand zu ermöglichen. Mary hörte auf zu stöhnen. Der Monitor zeigte einen ruhigen und regelmäßigen Herzschlag an.
    »Postoperative Anweisungen, Dr. Wettig?« fragte die Schwester.
    Es entstand ein kurzes Schweigen. Abby sah zu Dr. Wettig, der erklärte: »Dafür ist Dr. DiMatteo zuständig.« Dann verließ er den Raum.
    Die Schwestern sahen sich an. Wettig schrieb seine postoperativen Anweisungen immer selbst. Das war ein weiterer Vertrauensbeweis für Abby.
    Sie nahm das Krankenblatt mit an den Tisch und notierte:
    »Übergabe an Ost Fünf, Herz-Thorax-Chirurgie. Diagnose: Postoperativ nach offener Lungenbiopsie wegen pulmonaler Knoten. Verfassung: stabil.« Zügig notierte sie Anweisungen zu Ernährung, Medikamenten und Mobilisierung. Dann kam sie an die Zeile »Herzstillstand« und hielt inne.
    Sie blickte hinüber zu Mary Allen, die reglos auf ihrem Bett lag.
    Wie mußte man sich fühlen mit vierundachtzig und krebszerfressen, die Tage gezählt und jeder von ihnen voller Schmerzen? Sie schrieb: »Keine Reanimation.«
    »Dr. DiMatteo?« tönte eine Stimme aus der Gegensprechanlage.
    »Ja?« fragte Abby.
    »Sie hatten vor etwa zehn Minuten einen Ruf aus Station Ost Vier. Sie wollen, daß Sie rüberkommen.«
    »Die Neurochirurgie? Haben Sie gesagt, warum?«
    »Es ging um eine Patientin namens Terrio. Sie sollen mit deren Mann reden.«
    »Karen Terrio ist nicht mehr meine Patientin.«
    »Ich richte nur die Nachricht aus, Dr. DiMatteo.«
    »Ja, danke.«
    Seufzend erhob sich Abby und trat an Mary Aliens Bett, um ein letztes Mal den Herzmonitor und die Körperfunktionen zu überprüfen. Der Puls ging ein wenig schnell, und die Patientin bewegte sich und stöhnte wieder, noch immer unter Schmerzen.
    Abby blickte die Schwester an. »Geben Sie ihr noch mal zwei Milligramm Morphium«, sagte sie.
    Der EKG-Monitor zeigte einen langsamen und gleichmäßigen Herzrhythmus an.
    »Ihr Herz ist so stark«, murmelte Joe Terrio. »Es will nicht aufgeben. Sie will nicht aufgeben.«
    Er saß am Bett seiner Frau und hielt deren Hände. Sein Blick fixierte das grüne Licht, das in Wellenlinien über den Monitor huschte. Die Apparaturen in dem Zimmer schienen ihn zu verwirren, Schläuche, Monitore, Saugpumpe. Zu verwirren und zu ängstigen. Er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf den EKG-Monitor, als ob er irgendwie auch alles andere bewältigen könnte, wenn er die Geheimnisse dieses rätselhaften Kastens ergründete. Als könnte er dann begreifen, wie er am Krankenbett der Frau gelandet war, die er liebte und deren Herz nicht aufhören wollte zu schlagen.
    Es war drei Uhr

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