Kalte Herzen
war so ziemlich der letzte Mensch, in dessen Hände Aaron Nina Voss wissen wollte.
Doch heute nacht gab es keine Alternative. Sie war die dienstälteste Assistenzärztin in Bereitschaft.
Sie sagte: »Ich wollte Mrs. Voss gerade untersuchen. Sie hat Fieber.«
»Ja, das hat man mir berichtet.« Wieder entstand eine Pause.
Abby sprang in dieses Nichts, entschlossen, ihr Gespräch auf einer rein fachlichen Ebene zu halten. »Ich werde das Übliche unternehmen«, sagte sie, »und sie zunächst untersuchen, den Blutstatus feststellen, Kulturen anlegen lassen, Uriuntersuchung und Thoraxaufnahmen veranlassen. Sobald ich die Ergebnisse habe, rufe ich Sie zurück.«
»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich erwarte Ihren Anruf.«
Abby zog einen sterilen Kittel über und trat in Nina Voss’ Zimmer. Eine einzelne Lampe brannte und warf einen blassen Lichtschein auf das Bett, in dem Nina Voss’ Haar auf dem Kopfkissen schimmerte wie ein silberner Strom. Mit ihren geschlossenen Lidern und den auf dem Bauch gefalteten Händen wirkte die Patientin auf seltsame Weise selig entrückt. Wie eine aufgebahrte Prinzessin, dachte Abby.
Sie trat an das Bett und sagte leise: »Mrs. Voss?«
Nina schlug die Augen auf. Langsam fixierte sie ihr Gegenüber.
»Ja?«
»Ich bin Dr. DiMatteo«, stellte Abby sich vor. »Ich bin chirurgische Assistenzärztin.« Die Augen der Frau blitzten für einen kurzen Moment des Erkennens auf. Sie kennt meinen Namen, dachte Abby. Sie weiß, wer ich bin. Ich, die Grabräuberin und Leichendiebin.
Nina Voss sagte gar nichts, sondern blickte sie nur mit unergründlichen Augen an.
»Sie haben Fieber«, erklärte Abby. »Wir müssen herausfinden, warum. Wie fühlen Sie sich, Mrs. Voss?«
»Ich bin … müde. Sonst nichts«, flüsterte Nina. »Nur müde.«
»Ich fürchte, ich muß die Operationswunde untersuchen.«
Abby schaltete das Licht an und löste langsam den Brustverband. Der Schnitt sah sauber aus, es war keine Rötung oder Schwellung zu sehen. Sie nahm ihr Stethoskop und fuhr mit der üblichen Routineuntersuchung fort. Sie hörte normale Atemgeräusche, tastete den Unterleib ab, untersuchte Ohren, Nase und Hals, aber sie fand nichts Außergewöhnliches, nichts, was ein Fieber verursachen könnte. Nina blieb die ganze Zeit still.
Ihr stummer Blick folgte jeder von Abbys Bewegungen.
Schließlich richtete Abby sich auf und sagte: »Es scheint alles in Ordnung zu sein. Andererseits muß es einen Grund für das Fieber geben. Wir machen eine Thoraxaufnahme und nehmen drei verschiedene Blutproben zur Anlage von Kulturen.« Sie lächelte entschuldigend. »Ich fürchte, Sie werden heute nacht nicht besonders viel schlafen.«
Nina schüttelte den Kopf. »Ich schlafe ohnehin nicht viel. So viele Alpträume.«
»Sie haben Alpträume?«
Nina atmete tief ein und langsam wieder aus. »Von dem Jungen.«
»Von welchem Jungen, Mrs. Voss?«
»Diesem Jungen.« Sie klopfte sich vorsichtig mit der Hand auf die Brust. »Man hat mir erzählt, daß es das Herz eines Jungen war. Ich weiß nicht einmal seinen Namen, oder wie er gestorben ist. Ich weiß nur, daß es einem Jungen gehört hat.« Sie sah Abby an. »So war es doch, oder nicht?«
Abby nickte. »Das habe ich im OP auch gehört.«
»Sie waren dabei?«
»Ich habe Dr. Hodell assistiert.«
Ein Lächeln legte sich über Ninas Lippen. »Seltsam, daß Sie dabei waren, nachdem …« Ihre Stimme verlor sich.
Einen Moment lang sagte keiner etwas, Abby wegen ihrer Schuldgefühle und Nina Voss wegen … weswegen? Wegen der Ironie dieser Begegnung? Abby dämpfte das Licht, und das Zimmer war wieder in grabkammerhaftes Halbdunkel getaucht.
»Mrs. Voss«, sagte Abby. »Was vor ein paar Tagen geschehen ist – das andere Herz, das erste …« Sie wandte den Blick ab, weil sie der Frau nicht in die Augen sehen konnte. »Da war dieser Junge. Siebzehn Jahre alt. In diesem Alter wollen Jungen normalerweise Freundinnen oder Autos. Aber dieser Junge wollte nur nach Hause. Sonst nichts, er wollte nur nach Hause.«
Sie seufzte. »Am Ende konnte ich nicht zulassen, daß es passierte. Ich kannte Sie noch nicht, Mrs. Voss. Sie lagen nicht vor mir im Krankenbett, sondern er. Und ich mußte eine Wahl treffen.« Sie blinzelte und spürte, wie ihre Wimpern von Tränen feucht wurden.
»Hat er überlebt?«
»Ja, er lebt.«
Nina nickte und faßte sich wieder an die eigene Brust, als wolle sie mit ihrem eigenen Herzen Zwiesprache halten.
Zuhören, kommunizieren. »Dieser
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