Kalte Herzen
spielen.«
Widerwillig verließ Jakov die Brücke und ging an Deck. Er war der einzige dort draußen. Er stand an der Reling und starrte in das vom Bug aufgewühlte Wasser. Jakov dachte an die Fische in ihrer grauen, trüben Welt in der Tiefe des Meeres und hatte auf einmal das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Anblick des gischtigen Wassers schien ihn förmlich zu ersticken.
Trotzdem bewegte er sich nicht. Er hielt die Reling mit seiner Hand umklammert und ließ sich von den panischen Gedanken an das kalte, tiefe Wasser durchströmen. Angst war ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte.
Jetzt spürte er es.
Acht
Z wei Nächte in Folge hatte sie denselben Traum. Die Schwestern erklärten ihr, daß das an den Medikamenten lag. Das Methylprednisolon, das Cyclosporin und die Schmerztabletten. Die Chemikalien brachten ihren Verstand durcheinander. Und nach wochenlangen Krankenhausaufenthalten waren Alpträume erklärlich. Das ging jedem so. Es war nichts, weswegen man sich Sorgen machen müßte. Die Träume würden irgendwann aufhören.
Doch als Nina Voss an jenem Morgen mit Tränen in den Augen in ihrem Bett auf der Wachstation lag, wußte sie, daß der Traum nicht aufhören, daß er nie aufhören würde. Er war jetzt ein Teil von ihr. Genau wie dieses Herz.
Behutsam fuhr sie mit den Fingern über ihren Brustverband.
Die Operation lag nun zwei Tage zurück, und die Schmerzen ließen langsam nach, obwohl sie nachts immer noch davon aufwachte, als wollten Sie Nina an das Geschenk erinnern, das sie erhalten hatte. Es war ein gutes, kräftiges Herz. Das hatte sie schon am Tag nach dem Eingriff gespürt. In den langen Monaten ihrer Krankheit hatte sie vergessen, wie es war, über ein kräftiges Herz zu verfügen. Zu gehen, ohne nach Luft zu schnappen. Zu spüren, wie das Blut warm und lebensspendend in ihre Muskeln strömte, die eigenen Finger zu betrachten und die rosigen Kapillaren zu bewundern, in denen es floß. Sie hatte schon so lange auf den Tod gewartet und sein Kommen akzeptiert, daß ihr nun das Leben fremd vorkam. Doch sie konnte es an ihren eigenen Händen sehen, in ihren eigenen Fingerspitzen spüren. Und in dem Pochen ihres neuen Herzens.
Es fühlte sich allerdings nicht so an, als würde es ihr gehören.
Vielleicht würde es das nie. Als Kind hatte sie oft Kleidung ihrer älteren Schwester Caroline aufgetragen, gute Wollpullover und kaum getragene Abendkleider. Obwohl sie unbestritten in Ninas Besitz übergingen, waren es für sie immer Carolines Kleider geblieben. Und wessen Herz bist du? fragte sie sich, als sie behutsam ihre Brust berührte.
Gegen Mittag kam Victor und setzte sich an ihr Bett.
»Ich hatte wieder diesen Traum!« erzählte sie ihm. »Den mit dem Jungen. Diesmal war er ganz deutlich! Als ich aufgewacht bin, konnte ich gar nicht aufhören zu weinen.«
»Das sind die Steroide, Liebling«, erklärte Victor. »Man hat dich doch vor den Nebenwirkungen gewarnt.«
»Ich glaube, es hat etwas zu bedeuten. Verstehst du nicht? Ich habe diesen Teil von ihm in mir. Und dieser Teil lebt noch. Ich kann ihn spüren.«
»Diese Schwester hätte dir nie sagen dürfen, daß es das Herz eines Jungen ist.«
»Ich habe sie gefragt.«
»Sie hätte es dir trotzdem nicht sagen dürfen. Die Enthüllung dieser Information nützt niemandem etwas, weder dir noch dem Jungen.«
»Nein«, sagte sie leise. »Dem Jungen nicht. Aber der Familie.
Wenn es eine Familie gibt.«
»Ich bin sicher, sie wollen nicht daran erinnert werden. Denk doch mal nach, Nina. Es ein streng vertrauliches Verfahren, und das hat seine Gründe.«
»Wäre das denn so traurig, der Familie einen Dankesbrief zu schreiben? Es würde vollkommen anonym bleiben. Nur ein schlichter –«
»Nein, Nina. Auf gar keinen Fall.«
Nina ließ sich schweigend in die Kissen zurücksinken. Sie benahm sich wieder albern. Victor hatte recht. Victor hatte immer recht.
»Du siehst heute wunderbar aus, Liebling«, lobte er. »Bist du schon aufgestanden und hast auf dem Stuhl gesessen?«
»Schon zweimal«, antwortete Nina. Der Raum wirkte auf einmal sehr, sehr kalt. Schaudernd wandte sie sich ab.
Pete saß in einem Stuhl an Abbys Bett. Er trug seine blaue Wölfingsuniform mit kleinen Aufnähern an den Ärmeln und den Plastikperlen an der Brusttasche, eine für jede Belobigung.
Seine Mütze trug er nicht. Wo ist seine Mütze? fragte sie sich, bis ihr einfiel, daß sie verlorengegangen war, daß sie und ihre Schwestern den
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