Kalte Herzen
Junge«, sagte sie, »dieser Junge lebt auch. Ich spüre sein Herz so deutlich. Jeden Schlag.
Manche glauben, daß die Seele des Menschen in seinem Herzen wohnt.
Vielleicht haben das auch seine Eltern geglaubt. An sie muß ich oft denken, und wie schwer es für sie sein muß. Ich hatte selbst nie einen Sohn. Ich habe gar keine Kinder.« Sie ballte die Hand zur Faust und preßte sie auf den Verband. »Glauben Sie, es ist ein Trost zu wissen, daß ein Teil von ihm weiterlebt?
Wenn es mein Sohn gewesen wäre, hätte ich es wissen wollen.
Ich hätte es wissen wollen.« Sie weinte jetzt, und Tränen liefen über ihre Schläfen.
Abby griff nach Ninas Hand und war überrascht, wie kräftig deren Händedruck war. Die Haut war fiebrig, ihre Finger hilfesuchend verkrampft. Sie blickte zu Abby auf, und ihre Augen schienen von einem seltsamen inneren Feuer zu leuchten.
Wenn du sie damals schon gekannt hättest, dachte Abby, wenn du zugesehen hättest, wie sie in einem Bett stirbt und Josh O’Day im anderen, für wen hättest du dich entschieden? Ich weiß es nicht.
Über dem Bett huschte ein Signal über den grün schimmernden Monitor des Oszilloskops. Das Herz eines unbekannten Jungen schlug einhundertmal pro Minute und pumpte fiebriges Blut durch die Adern einer Fremden.
Als Abby Ninas Hand hielt, konnte sie einen pochenden Puls spüren, einen langsamen, regelmäßigen Pulsschlag. Es war nicht Ninas, sondern ihr eigener.
Zwanzig Minuten später kam der Röntgentechniker mit einem tragbaren Gerät und machte Thoraxaufnahmen, eine weitere Viertelstunde später hatte Abby die entwickelten Röntgenbilder in der Hand. Sie klemmte sie an den Leuchttisch und untersuchte sie auf Anzeichen für eine Lungenentzündung, aber sie konnte nichts erkennen.
Es war jetzt drei Uhr morgens. Sie rief Aaron Levi an.
Seine Frau nahm mit vor Schlaf heiserer Stimme ab. »Hallo?«
»Elaine, hier ist Abby DiMatteo. Tut mir leid, Sie um diese Uhrzeit zu stören. Kann ich mit Aaron sprechen?«
»Er ist zum Krankenhaus gefahren.«
»Wie lange ist das her?«
»Das war gleich nach dem zweiten Anruf. Ist er nicht dort?«
»Ich habe ihn noch nicht gesehen«, sagte Abby.
Am anderen Ende der Leitung entstand ein Schweigen. »Er ist vor einer Stunde losgefahren«, meinte Elaine dann. »Er müßte längst da sein.«
»Ich werde ihn anpiepen. Machen Sie sich keine Sorgen, Elaine.« Abby legte auf, wählte Aarons Pieper an und wartete auf seinen Rückruf.
Um Viertel nach drei hatte er sich noch immer nicht gemeldet.
»Dr. DiMatteo«, sagte Sheila, Nina Voss’ Schwester. »Wir haben die letzte Blutprobe genommen. Sollen wir sonst noch etwas tun?«
Was habe ich übersehen? dachte Abby. Sie stützte sich auf den Schreibtisch und massierte ihre Schläfen, um gegen die Müdigkeit anzukämpfen? Denk nach! Ein postoperatives Fieber.
Wo lag der Infektionsherd? Was hatte sie übersehen?
»Was ist mit dem Organ selbst?« sagte Sheila.
Abby blickte auf. »Das Herz?«
»Der Gedanke ging mir nur so durch den Kopf. Aber das ist wohl ziemlich unwahrscheinlich …«
»Welcher Gedanke, Sheila?«
Die Schwester zögerte. »Hier habe ich so etwas noch nie erlebt, aber bevor ich ans Bayside kam, habe ich in einer Nierentransplantationsklinik in Mayo gearbeitet. Ich erinnere mich an einen Patienten, einen Nierenempfänger mit postoperativem Fieber. Erst nach seinem Tod haben wir den Infektionsherd gefunden. Es war eine schwammige Geschwulst, wie sich herausstellte. Später hat man die Spenderunterlagen durchforstet und festgestellt, daß die Kulturen des Spenders positiv waren, die Ergebnisse jedoch erst eine Woche nach der Nierenentnahme eintrafen. Da war es für den Empfänger, unseren Patienten, schon zu spät.«
Abby dachte einen Moment lang nach. Sie blickte auf die Reihe von Monitoren und beobachtete das Herzsignal von Bett Nr. fünfzehn.
»Wo werden die Spenderinformationen gespeichert?«
»Die werden unten im Büro der Koordinationsstelle für Transplantationen aufbewahrt. Die leitende Oberschwester hat den Schlüssel.«
»Könnten Sie sie bitten, mir die Unterlagen herauszusuchen?«
Abby klappte Nina Voss’ Krankenakte noch einmal auf und blätterte bis zum Spenderformular der New England Organ Bank weiter, das mit dem Herz aus Vermont gekommen war.
Verzeichnet waren die Blutgruppe AB 0 sowie HIV-Status, Syphilis-Antikörper-Titer und eine lange Liste anderer Laboruntersuchungen auf diverse Vireninfektionen. Der Spender war anonym.
Eine
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