Kalte Herzen
rollten die beiden Jungen raufend, fluchend und tretend von einer Seite der Kiste zur anderen. Sie hatten kaum Platz, um sich gegenseitig ernsthaft weh zu tun. Schließlich hatte Alexei Shu-Shu verloren und ließ von Jakov ab, um ihn in der Dunkelheit unter den Sägespänen zu suchen. Jakov hatte sowieso keine Lust mehr zum Raufen.
Also hörten sie beide auf und blieben für eine Weile ruhig nebeneinander liegen. Alexei war an Shu-Shu gekuschelt und Jakov damit beschäftigt, seinem Magen neue, noch seltsamere Geräusche zu entlocken. Doch bald verlor er auch daran die Lust. Sie lagen still in ihrem Versteck, gelähmt von der Langeweile, dem einschläfernden Gerümpel der Maschinen und dem Wogen der See.
»Ich bin nicht in sie verknallt«, sagte Alexei in die Dunkelheit.
»Mir doch egal.«
»Aber die anderen Jungen mögen sie. Hast du mitgekriegt, wie sie über sie reden?« Nach einer Pause fügte Alexei hinzu: »Ich mag es, wie sie riecht. Frauen riechen anders. Sie riechen weich.«
»Weich ist doch kein Geruch.«
»Doch. Wenn eine Frau so riecht, dann weiß man, daß sie sich weich anfühlt, wenn man sie anfaßt. Man weiß es einfach.«
Alexei streichelte Shu-Shu. Jakov hörte, wie die Hand über das gelichtete Fell strich.
»Meine Mutter hat so gerochen«, sagte Alexei.
Jakov dachte an seinen Traum, an die Frau, das Lächeln, das blonde Haar, das ihr ins Gesicht fiel. Ja, Alexei hatte recht. In seinem Traum hatte seine Mutter tatsächlich nach Weichheit geduftet.
»Das klingt blöde«, sagte Alexei. »Aber daran kann ich mich erinnern. Ich kann mich immer noch an ein paar Sachen von ihr erinnern.«
Jakov streckte sich, und seine Füße berührten das andere Ende der Kiste. Bin ich gewachsen? fragte er sich. Hoffentlich. Wenn ich doch nur groß genug werden könnte, um meine Füße durch diese Wand zu stoßen.
»Denkst du manchmal an deine Mutter?« fragte Alexei.
»Nee.«
»Du kannst dich ja sowieso nicht an sie erinnern.«
»Ich weiß, daß sie schön war. Sie hatte grüne Augen.«
»Woher willst du das wissen? Onkel Mischa hat gesagt, du wärst noch ein Baby gewesen, als sie verschwand.«
»Ich war vier. Da ist man kein Baby mehr.«
»Ich war sechs, als meine Mutter verschwand, und ich kann mich kaum noch an irgendwas erinnern.«
»Ich sage dir, sie hatte grüne Augen.«
»Sie hatte also grüne Augen, na und?«
Das Klappern einer Tür ließ sie beide verstummen. Jakov rutschte zur Öffnung der Kiste und sah hinauf. Es war wieder Nadja, die gerade durch die blaue Tür getreten war und nun den Steg überquerte. Sie verschwand durch die vordere Luke.
»Ich kann sie nicht leiden«, sagte Jakov.
»Ich schon. Ich wünschte, sie wäre meine Mutter.«
»Die mag Kinder eigentlich gar nicht.«
»Zu Onkel Mischa hat sie gesagt, sie würde uns ihr Leben widmen.«
»Und das glaubst du?«
»Warum sollte sie so was sagen, wenn es nicht stimmt?«
Jakov versuchte, eine Antwort darauf zu finden, doch es fiel ihm keine ein. Und selbst wenn ihm eine eingefallen wäre, hätte das Alexei nicht umgestimmt. Blöder Alexei. Alle waren blöd.
Nadja hatte sie alle eingewickelt. Elf Jungen, und jeder einzelne von ihnen war in sie verliebt. Beim Essen kämpften sie um den Platz neben ihr. Sie beobachteten sie, hofierten sie und schnupperten an ihr herum wie Schoßhündchen. Und nachts in ihren Kojen flüsterten sie über Nadja dies und Nadja das. Sie spekulierten über alles, angefangen bei ihrem Alter bis hin zu der Wäsche, die sie unter ihren grauen Röcken trug. Sie diskutierten darüber, ob Gregor, den keiner leiden konnte, ihr Liebhaber war, und entschieden sich einmütig dagegen. Sie tauschten ihr Wissen über die weibliche Anatomie aus. Die älteren Jungen überboten sich mit detailversessenen Vorträgen zur Funktion und Anwendung von Tampons und prägten damit bei den Jüngeren die Vorstellung, Frauen seien Wesen mit mysteriösen, dunklen Löchern. Dies wiederum erhöhte nur die Faszination, die Nadja auf sie ausübte.
Jakov teilte diese Faszination, doch er erlag ihr nicht aus Bewunderung. Er hatte Angst vor Nadja.
Angefangen hatte es mit den Bluttests.
An ihrem vierten Tag auf See, als die Jungen noch alle spuckend und stöhnend in ihren Kojen lagen, gingen Nadja und Gregor mit einem Tablett voller Nadeln und Röhrchen herum.
»Es ist nur ein kleiner Pieks«, hatten sie gesagt, »ein kleines Röhrchen voll Blut, um sicherzugehen, daß ihr gesund seid.
Denn niemand wird euch adoptieren, wenn ihr
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