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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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des Hubschraubers ließ alle die Köpfe wenden. Der Wind der Rotorblätter ließ die Overalls der Männer flattern. Sie beobachteten, wie der Hubschrauber abhob, eine Kurve von neunzig Grad beschrieb und langsam wieder von der Nacht verschluckt wurde. Nur ein leises Grollen wie von einem entfernten Gewitter hing noch eine Weile in der Luft.
    »Wohin fliegt der?« fragte Jakov.
    »Meinst du, das würden sie mir sagen?« entgegnete der Steuermann. »Sie rufen einfach an, wenn er kommt, um etwas abzuholen, und ich drehe den Bug in den Wind. Das ist alles.«
    Er legte einen der Schalter auf dem Schaltbrett um.
    Augenblicklich erlosch das Flutlicht, und das Deck war wieder in Dunkelheit getaucht.
    Jakov drückte sich so dicht wie möglich an das Fenster der Brücke. Das Grollen des Hubschraubers war verstummt, in alle Richtungen erstreckte sich nur die Schwärze der See. Alexei weinte noch immer.
    »Nun hör schon auf«, sagte der Steuermann und gab Alexei einen Klaps auf die Schulter. »Ein Junge in deinem Alter! Und benimmt sich wie ein Mädchen.«
    »Aber weshalb kommt er? Der Hubschrauber?« fragte Jakov.
    »Das habe ich doch schon gesagt. Um etwas abzuholen.«
    »Was holt er denn ab?«
    »Ich frage nicht. Ich tue einfach, was sie mir sagen.«
    »Wer?«
    »Die Passagiere auf dem Achterdeck.« Er zog Jakov vom Fenster weg und schubste ihn Richtung Tür. »Geht zurück in eure Kojen. Ich habe zu arbeiten.«
    Jakov wollte Alexei zur Tür hinaus folgen, als sein Blick auf den Radarschirm fiel. So oft hatte er schon davor gestanden, wie gebannt von der hypnotischen Bewegung, mit der die Linie ihren Bogen von dreihundertsechzig Grad beschrieb. Nun blieb er wieder stehen und beobachtete, wie die Linie Runde um Runde drehte. Er hatte es gleich gesehen, ein kleines silbriges Etwas am Rande des Bildschirms.
    »Ist das ein anderes Schiff?« fragte Jakov. »Da auf dem Radar?«
    Er zeigte auf den silbrigen Punkt, der plötzlich aufleuchtete, als die Linie darüberstrich.
    »Was denn sonst? Los, haut endlich ab.«
    Die Jungen trollten sich und polterten die Treppe zum Hauptdeck hinunter. Jakov blickte zurück und sah die Silhouette des Steuermanns im grünen Licht hinter dem Fenster der Brücke.
    Wachsam, immer wachsam.
    Und dann sagte er: »Jetzt weiß ich, wohin der Hubschrauber fliegt.«
    Pjotr und Valentin waren nicht beim Frühstück. Die Nachricht von ihrer Abreise in der Nacht hatte sich bereits bis zu Jakovs Kabine herumgesprochen. Als er sich an jenem Morgen an den Tisch setzte und in die Gesichter der anderen Jungen sah, wußte er, warum sie so still waren. Keiner von ihnen verstand, warum ausgerechnet Pjotr und Valentin die ersten waren. Alle hatten geglaubt, daß Pjotr bis zum Ende übrigbleiben würden, es sei denn, es fände sich die unwahrscheinliche Familie, die idiotische Kinder bevorzugte.
    Valentin, der in Riga dazugekommen war, war durchaus schlau und hübsch genug, aber heimlich war er pervers, wie die Jüngeren wußten. Wenn die Lichter ausgegangen waren, war er ohne Unterwäsche in ihre Kojen geklettert und hatte geflüstert:
    »Spürst du das? Spürst du, wie groß ich bin?« Und dann hatte er ihre Hände gepackt und sie gezwungen, ihn anzufassen.
    Aber Valentin war nun weg. Er und Pjotr waren auserwählt worden und nun auf dem Weg zu ihren neuen Eltern, hatte Nadja ihnen erklärt.
    Sie waren die Übriggebliebenen.
    Am Nachmittag kletterten Jakov und Alexei an Deck und streckten sich auf der Stelle aus, wo der Hubschrauber gelandet war. Sie lagen auf dem Rücken und starrten in den harten, blauen Himmel. Keine Wolken, keine Hubschrauber. Es war warm an Deck, und die beiden wurden langsam schläfrig, wie zwei Kätzchen auf einer Heizung.
    »Eigentlich«, sagte Jakov mit gegen die Sonne geschlossenen Augen, »will ich gar nicht adoptiert werden, wenn meine Mutter noch lebt.«
    »Tut sie aber nicht.«
    »Könnte sie aber.«
    »Warum ist sie dann nicht zurückgekommen, um dich zu holen?«
    »Vielleicht sucht sie jetzt gerade nach mir. Und ich bin hier, mitten auf dem Ozean, wo kein Mensch mich finden kann.
    Außer mit Radar. Ich werde Nadja sagen, daß ich zurückwill.
    Ich will keine neue Mutter.«
    »Ich schon«, sagte Alexei. Er schwieg einen Moment, bevor er fragte: »Glaubst du, daß mit mir irgendwas nicht stimmt?«
    Jakov lachte. »Du meinst, außer der Tatsache, daß du zurückgeblieben bist?«
    Als Alexei nicht antwortete, blinzelte Jakov zu ihm hinüber und war einigermaßen verwirrt, als er sah, daß

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