Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Eusterbeck seitlich wegkippte, schwappte vier Grad Celsius kaltes Wasser über die Scholle und löste innerhalb eines Augenblicks ihre festgefrorene Hand vom Eis. Sie rutschte kopfüber in den See, wurde aber, sowie sie eingetaucht war, von den schweren Schlittschuhen hinabgezogen, während die Luft in den Daunenschichten ihres Anoraks ihrem Oberkörper vorübergehend Auftrieb gab. Deshalb gelang es ihr entgegen der physikalischen Wahrscheinlichkeit, noch einmal den Kopf über Wasser zu bringen und nach Luft zu schnappen. Gefangen in schwerfälliger Winterkleidung, eingezwängt zwischen massiven Eisschollen, spürte sie, wie das Wasser nach ihr griff. Doch sie wehrte sich nicht mehr gegen das Unabwendbare. Sie hatte keine Chance, das war ihr bewusst, obwohl bereits alle Synapsen unter ihrer Schädeldecke in einer Orgie von wirren und widersprüchlichen Befehlen feuerten. Vielleicht war es auch ein klaustrophobischer Schock, der sie in völliger Erstarrung verharren ließ. Dann, als sie wieder unter Wasser gezogen wurde, war es, als gäbe es plötzlich keine äußere Welt mehr. Keine Aufgaben, keine Maßnahmen, keine Hoffnungen. Es gab nur noch Rot. Rot und ein explodierendes Etwas in ihrem Nacken. Und das verglühende Bild der zwei Männer am Ufer. Dass es zwei Männer waren, nahm Natascha noch wahr. Doch es gelang ihr nicht mehr, es zu begreifen.
*
Beim zweiten Schuss war Henrik auf halber Strecke zum See. Er lief nicht auf dem Weg, querfeldein durch die Bäume war kürzer. Doch im tiefen Schnee kam er so langsam vorwärts, als liefe er durch Treibsand. Er blieb stehen und versuchte, Luft zu holen. Seine Lunge brannte, sein Gesicht glühte, ihm war schwindelig. Er stieß sich von einem Baum ab und rannte weiter. Immerhin dämpfte der Schnee auch den Lärm, den er sonst mit seinem Lauf verursacht hätte. Er stürzte voran, rutschte am Hang, rappelte sich auf und glitt mehr, als dass er lief. Dann hörte er den zweiten Knall. Und er hörte die Stimme seiner Frau, die panisch kreischte. Ihre Worte drangen nur bruchstückhaft in sein Bewusstsein – »Lafrage … Denken Sie doch … bin …« Die Schreie schienen sich in den hohen Bäumen zu vervielfachen. Verzweifelt pflügte Henrik Eusterbeck durch den Schnee. Einige Schritte später endlich konnte er sie sehen – und verfluchte Gott dafür, was er sehen musste.
Am Ufer stand ein Mann und hielt eine Waffe auf Natascha gerichtet. Zehn Schritte von ihm entfernt, zwölf vielleicht. Henrik hastete vorwärts. Die nackte Angst verlieh ihm beinahe übermenschliche Kräfte. Plötzlich schien der Schnee nicht mehr da zu sein, seine Stiefel behinderten ihn nicht mehr, er brauchte nicht einmal mehr Luft. Ein dritter Schuss zerriss die Luft, schien sein Innerstes sprengen zu wollen. Henrik stürzte sich nach vorn. In dem Moment drehte sich der Mann um und starrte ihn für den Bruchteil eines Augenblicks völlig perplex an. Lange genug für Henrik Eusterbeck, sich auf ihn zu werfen. Der Mann konnte die Pistole nicht mehr schnell genug hochreißen und schoss nur in den unschuldigen Schnee, während die Hände des Angreifers sich in seine Haare krallten und ihn zu Boden rissen. Henrik war noch niemals in seinem Leben so voller Energie gewesen. Er stieß dem Mann seinen Ellbogen ins Gesicht, dass das Blut spritzte, trat ihm, als er wieder auf die Beine kam, mit seinem schweren Stiefel mit aller Kraft in den Bauch, stieg, als er über ihn hinweghastete, auf sein Gesicht und watete dann so schnell, wie es ihm irgend möglich war, in den See. Dessen Oberfläche schob sich höhnisch vor ihm zusammen und ließ nur einen schmalen Wellenpfad für ihn übrig, der ihn in die Tiefe lockte. Irgendwo dort war Natascha versunken.
Bonn, Bad Godesberg, Bundeskanzleramt, 31.10.1989, 8:42:00 Uhr.
»Irmi, Walther hier. Ja … Ach Irmi, ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll. Eben habe ich eine schreckliche Nachricht erhalten. Ich wollte es dir selbst sagen. – Ja, es geht um Albert. – Leider, ja, es ist ihm etwas zugestoßen. Sein Wagen ist in einen Hinterhalt geraten, Näheres weiß ich noch nicht. Aber, Irmi, du musst jetzt stark sein. Albert hat es nicht überlebt.« Walther Brass blickt zur Uhr. Pressekonferenz frühestens in zwei Stunden, denkt er. »Ach Irmi, es tut mir so leid. – Wenn ich … wenn ich irgendetwas für dich tun kann und für die Kinder, dann weißt du ja, ich bin immer für dich da. Hannah auch. Ich sage ihr, dass sie sich ein bisschen um euch kümmern soll. …
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