Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Polen, sonst sind wir komplett«, sagte Bauer leise und machte sich eine Notiz.
Die Morgenkonferenz bestand in der Regel aus den wichtigsten Mitarbeitern des Kanzleramts und, wenn es der Sache dienlich war, Vertretern der einzelnen Ressorts. Sie fand täglich statt außer am Wochenende – und garantiert jeden Samstag. Es war außerdem ein offenes Geheimnis, dass sie auch an beinahe jedem Sonntag einberufen wurde, allerdings in kleinerem Kreis. Die Kanzlerin hielt dann nur eine ganz intime Besprechung in ihrem Büro ab, zu der sie ihren Referenten, den Kanzleramtsminister, ihren Sprecher und vielleicht noch ein oder zwei weitere Personen einlud. Oft waren das keine »Offiziellen«. Meist aber waren es ihre wichtigsten Minister: Finanzen und Arbeit.
Natascha Eusterbeck ließ den Blick über die Runde schweifen. Bergs letzter Satz hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Wenn Sie sich da mal nicht täuschen. Sie fragte sich, wer von den Anwesenden ein Täuscher war. Irgendjemand im Amt wollte ihr nichts Gutes. War es eine der Personen, die in diesem Raum saßen?
Den Finanzminister konnte sie ausschließen. Alexander Rau hatte mit Sicherheit andere Probleme als eine untergeordnete Staatssekretärin im Kanzleramt. Außerdem hätte er bei einem Staatshaushalt, der nur halb so sehr aus dem Ruder lief wie seiner, keine Sekunde mehr Zeit, Ränke zu schmieden. Rau war eigentlich so etwas wie ein Außerirdischer, oder vielmehr: ein Überirdischer. Jeder andere Mensch wäre unter dem Druck, den er angesichts seiner Zahlen und des unvorstellbaren Lügengebäudes, das der jüngste Haushaltsplan darstellte, unverzüglich in die geschlossene Anstalt eingeliefert worden. Er aber saß da und strahlte eine Ruhe aus, die einem Buddha Ehre machte. Im Kanzleramt nannten sie ihn »Kamikaze«.
Neben Rau und seinem ebenfalls anwesenden Referenten saß der Abteilungsleiter für Wirtschaft und Finanzen, ein grobschlächtiger, sehr gebildeter und auch eingebildeter Mann, der gerne schwitzte und dazu neigte, seine Stimme zu erheben. Er war in dritter Ehe mit einer bekannten Fernsehjournalistin verheiratet und hatte sich damit um den sicher geglaubten Posten des Bundesfamilienministers gebracht. Dennoch hielt Natascha ihn für eine ehrliche Haut. Vielleicht auch gerade deshalb. Würde er sich verstellen können? Kaum.
Die Chefin des Pressedienstes war anwesend, eine ehemalige Springer-Redakteurin, hinter deren glatt-gelifteter Fassade ein Raubtier schlummerte, da war Natascha sich sicher. Britta Paulus war ein Drache. Und ein Arbeitstier, wie die meisten hier. Außerdem war sie erkennbar feindselig gegen Berg eingestellt. Wo immer sich ihr die Gelegenheit bot, seine Aussagen zu widerlegen, wo immer sie in seine Ausführungen grätschen konnte, wann immer sie schlechte PR des Kanzleramts mit entsprechenden Rückwirkungen in der Presse anprangern konnte, tat sie das. Und Natascha hatte den Eindruck, dass die Kanzlerin genau diese Rivalität sehr schätzte. Wenn die Paulus den Pressesprecher scharf kontrollierte, musste sie sich keine Sorgen machen. Umgekehrt begegnete David Berg seiner Kollegin immerzu mit ausgesuchter Zuvorkommenheit. War er sonst schon ein ungemein charmanter Zeitgenosse, so sprühte er in Gegenwart von Britta Paulus geradezu. Natascha blickte unauffällig zu ihm hinüber. Er sagte gerade ein paar Takte zur Kanzlerrede in der bevorstehenden Haushaltsdebatte. »Dass wir unsere Sparziele verfehlen, wird niemanden wundern«, dozierte er. »Die Frage ist, wie wir es verkaufen. Wir haben uns dazu …«
»Wenn wir so tun, als würde sich niemand wundern«, fuhr Britta Paulus dazwischen, »dann schlägt uns das die Presse um die Ohren. Das würde ja ein Eingeständnis bedeuten, dass wir gar nicht das Ziel hatten zu sparen!«
»Wenn ich jetzt auch einmal etwas dazu sagen darf …«, meldete sich Finanzminister Rau zu Wort. »Das ist doch alles Kokolores. Die Menschen wissen doch, dass wir nicht wirklich sparen werden. Keine Regierung hat bis jetzt gespart. Unser Haushalt hat ein Loch, das ist so groß, dass wir den Bodensee darin versenken könnten. Und die Opposition noch dazu. Warum sagen wir nicht einfach: Unser Ziel war es, das Geld anständig auszugeben. Die Leute interessiert doch nicht, woher es kommt, die wollen doch vor allem wissen, was wir damit machen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Rau«, widersprach Berg. »Es interessiert die Wähler durchaus, woher das Geld kommt. Denn es kommt ja von ihnen. Es ist
Weitere Kostenlose Bücher