Kalte Macht: Thriller (German Edition)
auf den Spion starrte. Nach wenigen Augenblicken konnte er erkennen, wie Licht durch das Guckloch drang. Wer immer hinter der Tür gestanden und ihn beobachtet hatte, hatte sich zurückgezogen.
Mit geschärften Sinnen nahm Henrik Eusterbeck seine Geldbörse zur Hand und zog eine Kundenkarte vom Drogeriemarkt hervor. Es war nicht seine, er hatte sie kürzlich gefunden und vorgehabt, sie beim nächsten Einkauf an der Kasse dort abzugeben. Jetzt erschien sie ihm ausgesprochen zweckmäßig. Er würde bei dem Versuch, das Schloss aufzuhebeln, weder seine eigene Kredit- oder Kontokarte ruinieren noch riskieren, dass die Karte abbrach und ein verräterisches Stück davon im Türschlitz stecken blieb und ihn als gescheiterten Einbrecher überführte.
Keine halbe Minute später stand er in der Wohnung. Die Tür war beinahe von selbst aufgegangen. Entweder war das Schloss schon völlig altersschwach, oder jemand hatte es manipuliert. Vielleicht war die Tür aber auch bloß nicht wieder sorgfältig zugezogen worden.
Es war dunkel in der Wohnung. Nachdem sich Henriks Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, ging er langsam weiter hinein und versuchte, sich zunächst einmal zu orientieren. Drei Räume, zwei zu seiner Rechten, einer zur Linken. Geradeaus schien das Badezimmer zu sein. Er streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus, überlegte es sich aber im letzten Moment anders. Was tat er hier eigentlich? Konnte es irgendeinen vernünftigen Grund geben, in eine fremde Wohnung einzubrechen?
Im Treppenhaus waren Schritte zu hören. Henrik hielt inne und wartete, bereit, jederzeit einen Eindringling mit dem Effekt der Überraschung zur Seite zu stoßen und nach draußen zu flüchten. Doch die Schritte verhallten, und es wurde wieder still. Von irgendwoher drang leise Musik, eigentlich nur der wummernde Bass. Henrik holte Luft, fasste sich ein Herz und ging zügig durch die Zimmer. Der erste Raum rechts war offenbar ein Kinderzimmer. Einfache Möbel, aber liebevoll eingerichtet, unaufgeräumt. Daneben ein Wohnzimmer mit zusammengeschobenem Schlafsofa, Couchtisch mit Blumendeckchen, Fernseher, Zeitschriften in einer unverständlichen Sprache. Auf einem Sideboard standen ein paar Fotos.
Das WC und die Küche: alles sehr schlicht, aber sympathisch – und leer. Henrik blieb stehen und konzentrierte sich, schärfte seine Sinne: kein Geruch von Essen hing in der Luft. Er legte seine Hand an den Wasserkocher: kalt. Prüfte die Erde der Orchidee, die am Fenster stand: trocken. Ein kleiner Strauch Basilikum hing welk in seinem Topf auf dem Sideboard. Henrik drehte den Wasserhahn auf: kein Zögern, keine Luft in der Leitung, keine Verfärbung des Wassers. Im Kühlschrank stand ein offener Becher Joghurt, in dem sich ein wenig Wasser abgesetzt hatte. Er ging ins Badezimmer. Die Wände der Dusche waren trocken, das Badetuch auch. Henrik Eusterbeck schloss aus alledem, dass die Wohnung wohl seit ein paar Tagen verlassen war, aber auch nicht länger. Das Handtuch aber schien noch etwas Feuchtigkeit zu bergen. Wie lange brauchte ein Handtuch, um zu trocknen? Sicher nicht länger als einen Tag.
Ein Geräusch ließ Henrik aufhorchen, ein Knacken. Es kam aus dem Nebenzimmer. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er hier in der Mitte der Wohnung vollkommen in der Falle saß. Er sah sich um, nahm ein Bügeleisen, das auf der Waschmaschine lag, zur Hand und schlich so leise, wie er es konnte, hinüber zum Kinderzimmer, wo er an der Tür stehen blieb und mit angehaltenem Atem lauschte. Es war ein gleichmäßiges Knacken, etwas Mechanisches. Mit dem erhobenen Bügeleisen zur Verteidigung wagte er sich vor und starrte in den Raum, der so leer war wie vorhin. Das Geräusch kam von einem Kassettenrekorder, einem Kindergerät, bunt und simpel. Ein Player, der sich nicht von selbst abschaltete, sondern so lange an der abgelaufenen Kassette zog, bis die Batterien leer waren. Denn es war ein batteriebetriebenes Gerät. Und es lief noch. Wie lange läuft ein Kinderkassettenrekorder ohne Unterbrechung auf Batterien? Fünf Stunden? Zehn? Sicher nicht länger. Henrik schauderte. Diese Wohnung war nicht so lange verlassen, wie er bis vorhin noch gedacht hatte.
Er betrachtete das Zimmer genauer. Über dem Bett auf einem kleinen Regalbrett standen zwei gerahmte Fotos. Auf einem war ein dunkelhäutiges Mädchen von vielleicht acht Jahren zu sehen, das mit breitem Lächeln ein Kamel fütterte, vielleicht im Zoo. Auf dem anderen dasselbe Mädchen, vermutlich ein
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