Kalte Macht: Thriller (German Edition)
klein wenig älter, eine attraktive farbige Frau mit hoch aufgestecktem Haar – und Michelle. Henrik Eusterbeck musste sich festhalten. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit. Michelle auf einem Foto in diesem Zimmer in dieser Wohnung, in die er aus völlig verrückten Gründen eingebrochen war? Er spürte, wie sein Atem sich verkrampfte. Ihm war schwindelig. Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich zu beruhigen. Dann nahm er den Rahmen zur Hand und betrachtete das Bild lange. Mit rotem Stift stand unten am Rand »Lilis Geburtstag«, daneben ein Herzchen. Er löste es schließlich heraus, um es einzustecken. Gerade als er sich abwenden wollte, um die Wohnung endlich zu verlassen, schreckte ihn der Klang eines Handys auf, das – halb verdeckt vom Kissen – auf dem Kinderzimmerbett lag. Ein kurzes, einmaliges Signal, offenbar die Nachricht, dass eine SMS eingegangen war. Henrik griff nach dem Telefon und rief die Nachricht auf: »Bis hierher und nicht weiter. Die Kleine ist in Sicherheit.«
Königstein/Taunus, Herrnwaldstraße, 31.10.1989, 8:39:38 Uhr.
»Konvoi in Sicht. Nachfahrendes Fahrzeug verdammt nah.«
»Alles in Ordnung. Abstand ist ausreichend.«
»Operation wird abgeschlossen, over.«
»Viel Glück, over.«
Der Bauarbeiter steckt das Funkgerät weg, nickt seinem Kollegen auf der anderen Straßenseite zu, der sich daraufhin schnell entfernt. Zurück bleibt ein Kinderfahrrad, auf dessen Gepäckträger ein Paket von der Größe einer Schultasche festgeklemmt ist. Der Bauarbeiter sieht in etwa 150 Metern Entfernung die beiden Mercedes Benz 500 von Nordwesten auf die Stelle zufahren. Der zweite Wagen bremst, wie er noch wahrnimmt, etwas ab. Der Bauarbeiter nimmt die Blende vom Reflektor der Lichtschranke und beeilt sich, den Ort zu verlassen. Auf ihn kommt es jetzt nicht mehr an.
8:40:00 Uhr. Die Bombe ist scharf.
SIEBEN
F ü r diese Fahrt hatte sie lieber ihren eigenen Wagen genommen. Auch wenn Bleicher vermutlich ein loyaler Mitarbeiter war – aber wer hätte das schon sicher zu sagen vermocht –, wollte Natascha doch versuchen, den Termin möglichst unauffällig zu gestalten. Sie parkte um die Ecke der Adresse in Friedrichshain-Kreuzberg, die ihr Petra Reber herausgesucht hatte, machte ihr Handy aus, um nicht geortet werden zu können, legte es ins Handschuhfach und besah sich noch einmal im Rückspiegel. Es war vermutlich die richtige Idee von Petra gewesen hierherzukommen. »Wenn du in der Angelegenheit nicht zur Polizei gehen willst, dann geh zu Sphinx.«
Natascha hatte die Einrichtung gekannt. Als Politikerin, die sich für Frauenthemen einsetzt, wusste sie seit langem, dass Sphinx eine Vereinigung von und für Prostituierte war, die Illegalen aus der Illegalität helfen, Drogenabhängigen einen Entzug verschaffen und Misshandelte in Frauenhäuser oder in die Anonymität vermitteln wollte. Für alle, die nur einfach mit ihrem Leben nicht zurechtkamen, gab’s Hilfe bei Steuern, Schulden oder Gesundheitsfragen. Nun stand sie also vor dem Büro, das sich in den Hinterhof eines alten Fabrikgebäudes zurückgezogen hatte und alles war, nur nicht verrucht, atmete einmal durch und trat ein.
An einem Schreibtisch, umrahmt von zwei wild wuchernden Topfpflanzen, saß eine Frau von Mitte fünfzig und sah neugierig auf. »Guten Tag«, sagte Natascha mit einer gewissen Befangenheit in der Stimme. »Sphinx, ja?«
»Sphinx«, erwiderte die Frau. »So wie et draußen dransteht. Wat kann ick für dich tun?« Sie sprach Natascha gleich mit »du« an, hielt sie also ganz offensichtlich für eine aus dem Gewerbe.
»Ich bin Natascha Eusterbeck, Staatssekretärin.«
»Offizieller Besuch? Davon weiß ick jar nichts.«
Natascha deutete auf den schäbigen Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. »Ist nicht offiziell. Darf ich mich trotzdem setzen?«
»Klar. Setzen Sie sich.« Die Frau nahm ihre Brille ab und blickte Natascha noch neugieriger an als vorher. »Nicht offiziell, sagen Sie?«
»Es geht um eine Frau, Sie wissen schon …«
»Ich vermute mal, Sie meinen eine Hure?«
Natascha nickte. »Sie hat sich an mich gewandt, weil sie Hilfe suchte.«
Die Frau lehnte sich zurück und sah beinahe spöttisch auf Natascha herab. »Und nun wird Ihnen die Sache lästig, und Sie möchten, dass wir dat übernehmen, richtig?«
»Leider nein. So einfach ist der Fall nicht.« Natascha setzte sich so, dass sie die Tür und das kleine Schaufenster, das von Plakaten halb zugeklebt war, im Blick hatte.
Weitere Kostenlose Bücher