Kalte Macht: Thriller (German Edition)
»Sie rief mich an und sagte, sie wollte auspacken.« Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass die Frau mit dem Gesicht zuckte, als hätte sie Zahnschmerzen. »Keine Ahnung, warum sie sich an mich gewandt hat. Aber ich war bereit, mich mit ihr zu unterhalten und ihr zu helfen.« Sie zögerte.
»Und?«
»Wir hatten ein Treffen.«
»Sie hat also ausgepackt ?« Es lag etwas gleichermaßen Lauerndes und Erschrockenes im Blick dieser Frau. Natascha schüttelte den Kopf. »Das wäre zu viel gesagt.«
»Vielleicht hat sie es sich anders überlegt.« Die Frau zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch aus dem Mundwinkel fast senkrecht in die Luft. » Auspacken geht gar nich. Dat ist hier die Mutter aller Gesetze. Wenn die Huren anfangen würden auszupacken, dann wär die Branche in null Komma nix tot. Wenn die Kunden sich nich mehr sicher fühlen können, bleiben se weg. Verstehn Sie mich nich falsch, es gäb vieles, wat man verfolgen müsste. Hier werden Frauen ausgebeutet und misshandelt. Jeden Tag. In Hinterzimmern im Wedding und in Kellern in Tegel werden Frauen von irgendwelchen Psychopathen als Sklaven gehalten. Aber auspacken, dat geht trotzdem nich. Damit würdest du Tausende anständige Huren um ihren Beruf bringen.«
Natascha Eusterbeck seufzte. »Verstehe«, sagte sie. »In dem Fall ging es nicht um Frauen. Es ging um Kinder.«
»Kinderprostitution meinen Sie?«
»Ich fürchte, ja.«
»Dat is eine verdammte Scheiße. Ick weiß natürlich, dass et dat jiebt.« Die Frau starrte aus dem Fenster. »Aber wat will man da machen. Hat sie Ihnen denn wat Konkretes jesacht?«
»Leider nein. Wir wurden unterbrochen. Plötzlich war sie weg. Und ich habe das ungute Gefühl, dass sie nicht freiwillig verschwunden ist.«
Die Frau hinter dem Schreibtisch musterte Natascha aus schmalen Augen. Offensichtlich fragte sie sich, ob sie glaubwürdig war. »Staatssekretärin?«
Natascha nickte. »Im Kanzleramt. Natascha Eusterbeck. Sie können das googeln.«
»Nich nötig, ick glaube Ihnen. Sie sehen aus, wie man sich ’n Staatssekretärin vorstellt.«
Egal, ob das ein Kompliment sein sollte. »Danke«, sagte Natascha und setzte nach: »Wissen Sie, ob eine Prostituierte vermisst wird?«
»Eine Hure? Namen kennen Sie nich?«
»Sandrine. Eine farbige Frau. Delgado. Sie hat ein etwa zehnjähriges Mädchen.«
»Sandrine«, sagte die Frau und machte sich eine Notiz. »Nein. Wir wissen nichts, dass eine von den Frauen vermisst wird. Woher wissen Sie dat alles?«
»Wir haben ein paarmal telefoniert. Mein Mann ist dann bei ihrer Wohnung vorbeigefahren …«
»Wo?«
»In Charlottenburg. Jedenfalls war das Mädchen auch nicht mehr da.«
»Na, dann wird et wohl keine Entführung sein, wa? Doppelentführungen kommen ja nicht so oft vor hier.«
»Da liegen Sie hoffentlich richtig«, seufzte Natascha, stand auf und nahm ihre Visitenkarte aus der Handtasche und legte sie auf den Schreibtisch. »Wenn Sie etwas von ihr hören, dann geben Sie mir Bescheid, ja?«
»Klar«, sagte die Frau. »Und warum gehn Sie mit der Sache nich zur Polizei?«
Natascha sah ihr ernst in die Augen und schwieg.
»Verstehe«, sagte die Frau langsam und drückte ihre Zigarette aus. »So viel kann ick sagen: Sie haben recht.«
Als sie wieder in ihrem Wagen saß, telefonierte Natascha mit Petra Reber. »Nichts. Sie wissen nichts.«
Petra seufzte. »Was machen wir jetzt? Doch zur Polizei gehen und die ganze Sache einfach erzählen?«
Die Polizei, ja. Es verging kein Tag, an dem Natascha nicht mit dem Gedanken spielte, sich die Angelegenheit einfach vom Hals zu schaffen, indem sie sie an diejenigen delegierte, die von Amts wegen dafür zuständig waren. Doch immer wieder hatte sie gezögert – und sie zögerte auch jetzt: »Ich weiß nicht, Petra. Mir ist nicht wohl dabei. Weißt du, zur Polizei hätte sie doch auch selbst gehen können.«
»Sie hätte zur Polizei gehen müssen !«
»Vielleicht. Aber wenn stimmt, was sie durchblicken ließ … Mein Gott, ich weiß ja auch nicht.« Wieder kamen ihr die Bilder von jener Nacht auf der Straße in den Sinn, als sie nach dem Besuch bei ihrem Vater verloren im Nirgendwo gestanden hatte. Es hätte ihr sonst etwas zustoßen können. Wenn selbst sie, die im Zentrum der Macht arbeitete, sich so verzweifelt und hilflos fühlen konnte, wie groß musste die Angst einer Frau wie Sandrine Delgado sein. »Die Kollegen in Grün ermitteln nicht immer so, wie sie sollen«, sagte sie schließlich.
»Mir ist noch
Weitere Kostenlose Bücher