Kalte Macht: Thriller (German Edition)
Würstchen, nach außen hin zumindest, tat sie ihm mit einem Mal leid. Er hatte es in ihrer Stimme gehört, und er hatte es inzwischen mehrmals in ihren Augen gesehen: Sie war getrieben. Getrieben von etwas, das sie nicht beherrschte, von etwas, nach dem sie sich nicht gestreckt hatte, sie war gefangen wie ein Hamster im Rädchen. Ja, das war sie: Sie hetzte durch ihr Laufrad. Und jedermann wusste, was mit dem Hamster passierte, wenn man ihn nur lange genug laufen ließ – er hetzte sich selbst zu Tode.
Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge fuhr Henrik Eusterbeck seinen Computer hoch und checkte die Mails. Natti hatte ihm geschrieben: »Hi, ’tschuldige bitte, dass ich dich geweckt habe. Alles wieder gut. Ich hoffe, du konntest noch ein bisschen schlafen.«
»Wie ein Murmeltier«, schrieb er zurück. »x und pass auf dich auf.«
»Und du auf dich. x.«
*
Das Kanzleramt lag unter einer diesigen Glocke, die sich wie zu besten DDR-Zeiten über die ganze Berliner Innenstadt gelegt hatte. Natascha ließ sich von Bleicher nicht in die Tiefgarage fahren, sondern stieg gleich am oberen Eingang aus und nahm den direkten Weg zur Sicherheitsabteilung. Noch immer war sie schockiert von dem nächtlichen Vorkommnis. Sie musste unbedingt mit Henrik darüber sprechen. Seit den frühen Morgenstunden fühlte sich ihr Körper an, als wäre er fremd, etwas, das nicht zu ihr gehörte. Sie ließ sich umgehend zu Gerhard Jäger bringen und kam gleich zur Sache: »Herr Jäger, ich bekomme Mails auf meinen privaten Account, die mich ziemlich beschäftigen.«
Jäger sah so aufgeräumt aus wie immer. Dennoch schüttelte er leicht den Kopf, während er mit einem Auge ständig die Monitore scannte. »Ich verstehe nicht.«
»Drohmails. Gehässiges Zeug.« Zwei Mitarbeiter der Sicherheit sahen von ihren Bildschirmen auf. Natascha fing ihre Blicke auf und sah ihnen so frontal ins Gesicht, dass sie sich wieder abwandten. Auf einem der Wandmonitore konnte Natascha sehen, wie der Wagen der Kanzlerin in der Tiefgarage vorfuhr.
»Verstehe. Sollen wir mal prüfen, ob wir den Urheber identifizieren können? Wir haben mehrere Spezialisten …«
Kam es ihr nur so vor, oder hatte Jäger diesen Satz als Standard abgespeichert? Mit einem Mal wurde sie misstrauisch. Natürlich war es das, was sie sich erhofft hatte. Aber der lauernde Ausdruck in seinen Augen, diese Abwesenheit auch nur des kleinsten Zögerns … »Nein danke, lieber Herr Jäger. Das war gar nicht mein Anliegen. Ich wollte nur wissen, ob es solche Vorfälle hier schon früher gegeben hat.« Die Kanzlerin stieg aus, verschwand in einem der Aufzüge und tauchte auf einem anderen Bildschirm auf, wo man sie von schräg oben sah.
»Nun«, erwiderte Jäger und folgte ihrem Blick. »Wenn Sie sagen, dass Sie diese Mails auf Ihren privaten Account bekommen, dann kann man doch nicht eigentlich von hier sprechen, oder?« Natascha konnte an seinem Mienenspiel erkennen, dass er gleichzeitig eine Nachricht über seinen Knopf im Ohr bekam. Er war abgelenkt. Kein Wunder, wenn gerade die Kanzlerin mit ihrem Gefolge das Haus betrat. »Na gut«, sagte sie. »Dann fügen wir eben ein ›auch‹ ein: Hat es hier auch schon mal solche Vorfälle gegeben?«
»Sie wissen, dass ich stets um größte Diskretion bemüht bin.«
Natascha versuchte, sich zwischen ihn und die Monitore zu schieben, um seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie kam sich albern vor und bemühte sich um einen coolen Ton. Niemand musste wissen, wie elend sie sich fühlte. Jäger schon gar nicht. »Ich will nicht wissen, wer hier wem anzügliche Mails geschrieben hat. Ich will nur wissen, ob Sie Fälle kennen, in denen Mitarbeiter des Hauses per E-Mail anonym bedroht worden sind.«
Jäger beugte sich vor und drückte einen Knopf. »Wir sind in zwei Minuten unten«, sagte er, offenbar in irgendein Mikrofon, das Natascha nicht erkennen konnte. Dann wandte er sich wieder ihr zu. »Ich schätze, das gibt es in jedem größeren Unternehmen. Wir haben hier zurzeit rund 470 Mitarbeiter. Dass da auch ein schwarzes Schaf dabei sein kann, liegt nahe. Vielleicht auch zwei oder drei. Wie gesagt, wenn Sie wollen, prüfen wir Ihren privaten Account. Das ist, was ich Ihnen anbieten kann, Frau Staatssekretärin.« Er hatte eine völlig undurchdringliche Maske aufgesetzt.
Natascha war verwirrt. Hatte sie ihn so falsch eingeschätzt? »Nein«, sagte sie. »Das ist nicht nötig. Das lasse ich meinen Mann erledigen. Er kennt sich in dem
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