Kalte Macht: Thriller (German Edition)
der sie wie Bleigewichte nach unten zog. Doch er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Schschsch.« Vielleicht war es auch nur das Dröhnen in ihrem Kopf. Es fühlte sich an, als schaukelte sie auf einem Schiff durch dichte Wolken. Henrik schlang einen Arm um sie, sie roch sein Aftershave und ließ ihn machen. Als er heftiger wurde, fühlte es sich an wie auf einem Drogentrip. Halb besinnungslos vom Alkohol spürte sie, wie er kam. Sie spürte seinen Atem in ihrem Genick und wie alles sich um sie drehte. Dann schlief sie wieder ein. Wenigstens nicht mehr allein.
*
Henrik musste das Haus noch vor dem Morgengrauen verlassen haben. Es war still in der Wohnung. Das Bett neben ihr war zerwühlt, ein feuchter Fleck verriet, wo sie gelegen hatten. Benommen rappelte sich Natascha auf und ging ins Bad. Das Handtuch war ihr vom Kopf geglitten, ihr Haar hing wirr ins Gesicht. Unter ihrer Schädeldecke pulsierte es. Sie hielt ihren Kopf noch einmal unters Wasser, verschloss Henriks Aftershave und stellte es wieder in den Badezimmerschrank. Hielt inne und lauschte. Plötzlich wurde ihr kalt. Es kam eigentlich nie vor, dass Henrik sein Aftershave offen stehen ließ. Er benutzte es auch gar nicht am Abend. Mit einem Mal war sie vollkommen nüchtern. Sie drehte sich um und ging durch die Wohnung. Ihre Tasche lag noch neben der Tür. Das halb geleerte Glas stand auf dem Esstisch. Die Küche sah aus, wie sie sie am letzten Morgen verlassen hatte. Natascha suchte ihr Handy. Das Display zeigte fünf Uhr morgens. Aus einer inneren Eingebung heraus wählte sie die Nummer des Hauses am See. Es klingelte lange. Dann meldete sich Henrik.
*
»Was ist denn los?«, stöhnte Henry und knipste die Schreibtischlampe an. Fünf Uhr morgens, verdammt.
»Ich …« Sie stockte.
»Weißt du, wie spät es ist?«
Ein Rascheln. Sie hörte, wie er sich aus dem Bett quälte. »Henry, ich … Entschuldige. Ich habe schlecht geschlafen.«
»Na prima, das haben wir ja nun beide.« Er knipste das Licht wieder aus und starrte in die Finsternis vor dem Fenster, während sich der Schein der Lampe langsam von seiner Netzhaut löste.
»Entschuldige. Geh wieder ins Bett, ja?«
»Du auch. Wahrscheinlich musst du ja sowieso schon demnächst wieder aufstehen.«
»Ach, ich bleibe wach und arbeite ein bisschen. Das lenkt mich ab.« Sie schickte ihm einen Kuss durchs Telefon, den er etwas lahm erwiderte. Dann legte er auf.
»Alles in Ordnung?«
Er drehte sich um. Michelle hatte das Licht auf ihrer Seite des Bettes angeknipst. Keine Fata Morgana konnte verlockender aussehen, obwohl das Kajal verwischt und das Haar in wilder Unordnung war – vielleicht auch gerade deshalb. »Ja«, sagte er und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Alles in Ordnung.«
»Kommst du wieder ins Bett?«
»Was für eine Frage.«
Nach einer frühmorgendlichen Nummer und einem erschöpften und zutiefst erholsamen Schlaf bis in die Vormittagsstunden hinein genoss Henrik Eusterbeck ein Frühstück in überaus appetitlicher Gesellschaft, ehe sich seine Gefährtin schnell und unkompliziert für die Rückfahrt nach Berlin fertig machte. Irgendwie geisterte Nataschas nächtlicher Anruf durch seinen Kopf. Sie hatte anders geklungen als sonst. Seltsam. Verstört. Ja, das war es. Ob er sie anrufen sollte? Er schaute hinunter auf den See, der einmal mehr im Sonnenlicht durch die Bäume glitzerte. Schon verrückt, dachte er, dass ausgerechnet Natti auf dieses Haus gestoßen war, sie, die doch nie für irgendetwas Zeit hatte. Und nun diese überraschende Fügung mit einer Frau, die wie geschaffen war, Männer glücklich zu machen. Schön war sie, fröhlich, scharf. Henrik musste grinsen, wenn er daran dachte, was sie im Bett alles machte und wie sie es machte. Kaum dass er seine Lust unterdrücken konnte, wenn er sich nur daran erinnerte. Es war gut gewesen, dass er ihre Nummer nicht weggeworfen hatte. Nein, eine solche Frau durfte man sich nicht durch die Lappen gehen lassen.
Und doch: Er spürte, wie ihn ein heimtückisches Gefühl des Mitleids beschlich, wenn er an Natascha dachte. Es war kein schlechtes Gewissen, so etwas kannte er nicht. Nicht in dieser Hinsicht. Schließlich hatte er nicht vor, Natti für eine Neue sitzen zu lassen. Im Gegenteil, er unterstützte sie ja jetzt sogar noch in ihrem Job. Ja, Henrik Eusterbeck war zur Hilfskraft seiner Frau geworden, und sie hatte allen Grund, ihm dankbar zu sein. Doch obwohl sie die große Macherin war und er nur ein kleines
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