Kalte Macht: Thriller (German Edition)
einem Lift gefangen gewesen, für wenige Minuten nur, bis das technische Problem behoben war, und dennoch: Es war ein Trauma, und es blieb eines.
Auf dem Absatz trat sie ans Fenster und sah hinunter auf die Straße. Bleicher stand noch immer am Wagen. Er steckte sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Als er nach oben blickte, trat Natascha instinktiv einen Schritt zurück. Er musste nicht denken, dass sie ihn beobachtete. Das Licht im Treppenhaus erlosch. Es war so still, dass sie das Holz arbeiten hören konnte. Bleicher ging einige Schritte die Straße hinab. Als er zurückkehrte, hatte er sein Handy am Ohr. Dann schnippte er die Zigarette weg, beendete sein Gespräch, stieg wieder in den Wagen und fuhr davon.
Ihr Handy klingelte. Ohne nachzusehen, wer es war, nahm sie den Anruf an. »Ja?«
»Sind Sie die Frau, die mit meiner Mama telefoniert hat?« Es war die Stimme eines Kindes. Sandrine Delgado, schoss es Natascha durch den Kopf. Schlagartig war sie hellwach. Das musste ihre Tochter sein.
»Wo bist du?«
»Ich habe mir Ihre Nummer gemerkt. 112 am Ende. Wie die Feuerwehr. Sie haben bei uns angerufen.«
»Ja. Wo bist du?« Hektisch wühlte sie in ihrem Gedächtnis nach dem Namen, den Henrik ihr gesagt hatte. Ja! »Wo bist du, Lili?« Sie konnte hören, wie das Mädchen zögerte. »Ich wollte deiner Mama helfen«, sagte Natascha und lauschte auf den schnellen Atem am anderen Ende. »Und jetzt will ich dir helfen.« Schweigen. »Lili?«
»Ich habe Angst.«
»Du musst mir sagen, wo du bist. Nur so kann ich dir helfen. Bei wem bist du?«
»Ich muss aufhören. Gleich kommen sie zurück«, flüsterte das Mädchen, schniefte, atmete. »Ich habe Angst.«
»Okay, Lili. Wenn du aus dem Fenster schaust, was siehst du dann?«, versuchte es Natascha, doch da war die Leitung bereits unterbrochen.
Sie stand in der Dunkelheit und spürte, wie ihr schwindelig wurde. Ich habe sie verloren, dachte sie. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Sie rief die Protokollliste ihres Handys auf. Doch der letzte Anrufer war nur als »Unbek. Teilnehmer« gelistet. Klar. Gleich kommen sie zurück , dachte sie. Sie mochte sich nicht vorstellen, was das bedeuten konnte. Jemand hatte sich des Kindes bemächtigt, das war offensichtlich. Jemand hatte Lili geschnappt, nachdem er die Mutter aus dem Weg geräumt hatte. Warum erst dann? Weil er nichts von ihrer Existenz wusste? Aber wie war er dann darauf gekommen? »Durch unsere Schnüffeleien«, flüsterte Natascha Eusterbeck und spürte die Erkenntnis wie einen Schlag ins Gesicht. Wer immer sie waren, sie waren durch ihre Nachforschungen auf das Mädchen gekommen. Und vorher auf die Mutter … Natascha musste an Dr. Frey denken. Ihn hatte sie gefragt wegen der Telefonnummer. Sie hatte ihn auf die Frau und auf ihre Adresse gebracht. Wenn er für das Verschwinden der Frau verantwortlich war, war er es dann auch, der das Kind hatte verschwinden lassen?
Sie musste unbedingt mit Petra sprechen. Vielleicht gab es ja noch eine Chance, das Kind zu finden. Dann durfte Petra aber keine unkoordinierten Aktionen durchführen. Mit zitternden Fingern wählte sie ihre Nummer. Doch es meldete sich nur die Mailbox. »Scheiße«, fluchte Natascha und steckte das Handy weg.
Ob Henry zu Hause war? Unwahrscheinlich. Plötzlich fühlte sich Natascha mehr als allein: Sie fühlte sich einsam. Sie lehnte sich an die Wand und atmete durch. Das ist dein Leben, Natascha Eusterbeck, nimm es, wie es ist. Arbeite daran, tu, was du tun musst. »Ja«, flüsterte sie zu sich selbst und stieß sich von der Wand ab. In dem Moment ging das Licht wieder an. Kurz war sie wie geblendet, weil sich ihre Augen schon an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie lauschte. Unten ging die Haustür. Dann sprang der Lift an. Sie sah ihn nach oben fahren. Doch er war leer. Plötzlich überkam sie Panik. Hastig fischte sie den Schlüssel aus ihrer Tasche, stolperte einige Stufen hinauf, doch dann blieb sie abrupt stehen. Von oben waren Schritte zu hören. Einen Moment war sie starr vor Schreck, dann hastete sie die Treppen abwärts und lief hinaus auf die Straße. Als könnte er doch noch irgendwo stehen geblieben sein, sah sie sich nach Bleicher um, den sie natürlich nirgends entdeckte. Stattdessen fiel ihr eine Gruppe Jugendlicher auf, die sich an der nächsten Ecke herumdrückte und zu ihr herüberblickte. Jeden Augenblick würde hinter ihr die Haustür aufgehen. Sie überquerte die Straße und setzte sich in dem kleinen
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