Kalte Macht: Thriller (German Edition)
und konnte gerade noch zurückspringen, ehe ihn ein Fahrzeug erwischte. »Ich muss gerade noch zu einem Kundengespräch in, äh, Charlottenburg.« Okay. Jetzt. Da drüben war eine halbhohe Mauer, dahinter ein beleuchteter Hof. Die Zufahrt hatte er vorhin gar nicht bemerkt.
»Kann ich dich von dort abholen?«
Oh Gott, das hatte ihm noch gefehlt. »Lass mal, ich hab ja auch den Wagen dabei. Treffen wir uns lieber. Hast du schon was gegessen?« Auf dem Hof standen ein paar ziemliche protzige Kisten. Etwas weiter hinten, das konnte der Mini sein. Henrik sah sich um, konnte aber niemanden entdecken und ging seitlich an den Mercede Coupés und den BMW s vorbei.
»Gegessen? Machst du Witze? Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal …« Sie seufzte. »Kannst du mich in einer halben Stunde in meinem Wahlkreisbüro abholen?«
»Jep.« Das war der Mini. Er beugte sich runter und sah durch die Scheibe. »In einer Stunde?«
»Danke. Bis dann. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
Der schwarze Mini. Drinnen lag ihre Tasche auf dem Rücksitz. Was machte sie hier? Henrik Eusterbeck richtete sich wieder auf und musterte das Gebäude. Hausnummer 38. »Le Club«. Und so sah das Etablissement auch aus.
*
Es war eine dieser heruntergekommenen Sechzigerjahreschulen, deren Sichtbeton von grün-rötlichen Schimmelschlieren überzogen war und in deren Pflanztrögen auf dem Schulhof mehr Unrat als Pflanzliches versammelt war. Ein paar verbeulte Fahrräder begrüßten Petra Reber am Tor, die Glastür zum Schulgebäude war mit veralteten Plakaten für »Soziale Tage Charlottenburg«, »Nachbarschaftshilfe Pfiffikus e.V.« und »AK Nachhilfe« vollgeklebt. Petra Reber sah sich im Halbdunkel des Foyers um: Nichts Einladendes empfing die Schüler hier, es war, als wollte man gar nicht, dass sie gern zur Schule kamen. Gegenüber der Tür hing der »Vertretungsplan«, links davon ging es zum Sekretariat, daneben war das Lehrerzimmer.
Sie klopfte und öffnete die Tür, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Hinter einem für Grundschüler viel zu hohen Tresen saß eine Sekretärin und sparte sich aufzublicken, als Petra Reber eintrat. »Ich wollte der Lili Delgado nur rasch ein Heft bringen, das hatte sie zu Hause vergessen.«
Nun sah die Sekretärin doch auf. »Und Sie sind?«
»Reber. Petra. Ich bin eine Nachbarin. Lilis Mutter konnte nicht vorbeikommen, weil sie arbeiten muss.«
Die Frau hinter der Theke musterte Petra Reber abschätzig. »Kann ich mir schwer vorstellen, um die Zeit. Und Sie müssen nicht arbeiten?« Klar. Die Sekretärin hatte ihren begründeten Verdacht, womit Mutter Delgado ihren Lebensunterhalt verdiente, und hielt nun auch Petra Reber für eine Nutte. »Ich habe heute frei«, sagte sie.
»Schön für Sie. Und Sie bringen ein Heft für Lili?«
»Ja. Hier.« Petra hielt einen Schnellhefter hoch, den sie aus dem Büro mitgebracht hatte, und steckte ihn gleich wieder weg.
»Das hat sie also zu Hause vergessen, ja? Als sie zur Schule gegangen ist?« Die Sekretärin griff zum Telefon.
»Ja«, bestätigte Petra Reber und fragte sich, ob ihre Geschichte wirklich so unglaubwürdig klang, wie die Sekretärin das scheinbar empfand.
»Das überrascht mich. Lili ist nämlich heute gar nicht zur Schule gekommen.«
»Sie ist nicht da?«
»Nein, sie ist angeblich krank.« Sie wählte eine kurze Nummer, offenbar eine Durchwahl. »Frau Zschocke? Hier ist jemand, der behauptet, Lili Delgado wäre gar nicht krank. – Ja. – Natürlich.« Sie legte wieder auf.
»Aber nein, das behaupte ich gar nicht«, versuchte Petra Reber, sich aus der Situation zu retten. »Da liegt vielleicht einfach ein Missverständnis vor.«
In der Seitentür des Sekretariats stand plötzlich eine zweite Frau, auf dem Schild daneben stand: OStDir. Dr. Elisabeth Zschocke, Rektorin. »Das glaube ich auch«, sagte die Rektorin. »Es gibt nämlich ein paar Menschen, die erliegen dem Missverständnis, dass Schulpflicht bedeutet, dass die Schule nur die Pflicht hätte, immer für die Schüler da zu sein. So ist das aber nicht. Wer sein Kind nicht regelmäßig zum Unterricht schickt, der verstößt gegen die Regeln. Und da ist unser Verständnis endlich.«
»Ich bin sicher, Frau Delgado kann nichts dafür«, sagte Petra Reber und wandte sich zur Tür. »Tut mir leid, ich wollte hier niemanden in Verlegenheit bringen.«
»Wenn die Kleine drei Tage fehlt, weil die Mutter angerufen und sie krankgemeldet hat, und es stimmt nicht, dass sie krank ist, dann
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