Kalte Schulter, Heißes Herz
abheben wird.“
„Ich werde mein Glück versuchen“, schloss Leon.
Wohin sie auch geflohen war, er würde sie finden. Was er verbockt hatte, musste Leon auch wieder in Ordnung bringen. Flavia gefiel ihm viel zu sehr, um es nicht wenigstens zu versuchen. Viel zu sehr!
„Hallo, liebste Gran!“ Flavia beugte sich über ihre Großmutter und küsste sie behutsam auf die Wange. Sie kam gerade erst vom Bahnhof, aber das erzählte sie der alten Dame nicht. Es wäre zwecklos. „Mrs Stephens sagt, du hattest heute ein leckeres Mittagessen? Kartoffelpüree, Erbsen und Scholle?“
Unsicher sah ihre Großmutter hoch und schloss die knotigen, zarten Finger um die dünne Decke, in die sie eingehüllt war. Es schmerzte Flavia unendlich, Zeugin dieser Hilflosigkeit zu sein. Früher war ihre Großmutter eine fröhliche, vitale Frau gewesen – und heute nur noch eine Gefangene ihres verwirrten Geistes.
„Scholle ist doch dein Lieblingsfisch, oder?“
Aber der müde Blick ihrer geliebten Grandma war schon ins Leere gewandert. Traurig drückte Flavia ein letztes Mal die zerbrechliche Hand und betrachtete die zierliche Gestalt in dem riesigen Doppelbett. In diesem Bett schlief ihre Großmutter, seit sie als junge Braut nach Harford gekommen war. Die ganze Geschichte war herzzerreißend, und Flavia musste schlucken.
Seit dem Tod von Flavias Großvater begann für die arme Witwe die langsame Reise in die Untiefen der eigenen Seele. Hatte sie ihr Lebenswillen verlassen, nachdem sie den geliebten Lebenspartner an ihrer Seite verlor?
Als sie den Raum verließ, lag immer noch ein trauriges Lächeln auf Flavias Gesicht. Wie es wohl wäre, einen Menschen so sehr zu lieben, dass man ohne ihn nicht mehr weiterleben mochte? Für sie selbst war das unvorstellbar. Flavia war noch nie so verliebt gewesen, auch wenn sie ihre festen Freunde sehr gemocht hatte. Richtig ernsthafte Gefühle gab es in ihrem Leben bisher nicht und schon gar keine stürmische Leidenschaft, wie sie Leon in ihr auslösen konnte.
Sofort dachte sie an den Moment, in dem sie hilflos in seinen Armen gelegen hatte. In allen Einzelheiten rief sie sich in Erinnerung, was in ihrem Inneren abgelaufen war. Wie ihre Sinne verrücktspielten, wie ihre Hormone sich überschlagen hatten. Schneller Atem, rasender Puls, sein warmer Mund, die Hitze …
Nein! Mit größter Anstrengung schlug sie sich diese Gedanken aus dem Kopf. Diese Erinnerungen führten zu nichts. Die ganze Zugfahrt über hatte sie sich bemüht, Leon aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen und die Begegnungen mit ihm nicht immer wieder vor ihrem inneren Auge abzuspulen.
Hier in Harford, zurück bei ihrer Großmutter und ihrem gewohnten Leben, war sie praktisch in Sicherheit. Weit weg von der scheinheiligen Welt ihres Vaters und all den geheimnisvollen, finsteren Männern, die ihn von Zeit zu Zeit umgaben. Eine kühne Erfahrung lag hinter ihr, die man getrost zu den Akten legen konnte. Schön und aufregend, aber nicht unbedingt einzigartig.
Mein Alltag verläuft in Bahnen, die dafür keinen Platz lassen, ermahnte sich Flavia.
Auf dem Weg nach unten in die Küche sah sie sich gründlich um. Die vertrauten Wände um sie herum flößten ihr tatsächlich ein Gefühl der Sicherheit ein. Möbel, Dekor, die alten Bilder – seit ihrer Kindheit hatte sich kaum etwas verändert.
Vor allem die riesige geflieste Wohnküche mit dem groben, hölzernen Esstisch und der originalen Küchenhexe strahlte Wärme und Familienzusammenhalt aus. Auch hier war alles wie immer, und genauso wollte Flavia es haben.
Geschäftig machte sie sich daran, ihrer Grandma ein Abendessen zuzubereiten. Etwas ganz Leichtes: Gemüsesuppe, Rührei auf Toast und eine zerdrückte Banane. Flavia würde nachher dasselbe essen. Und später dann, wenn ihre Großmutter allmählich einschlief, saß Flavia in dem Schlafzimmer der alten Dame am Fenster und las in einem Buch. Erst spät am Abend machte sie sich noch einen Tee und ging in ihr eigenes Bett, um dort weiterzulesen und schließlich selbst zu schlafen. Dabei ließ sie grundsätzlich die Tür offen stehen, damit sie hören konnte, wenn ihre Grandma unruhig wurde.
So war es seit Langem Routine für beide, und auf die gleiche Weise wurde auch der Tag durchstrukturiert. Grandma beim Aufstehen helfen, sie nach unten bringen und in das sonnige Esszimmer setzen, den Haushalt erledigen. Bei gutem Wetter wurden nach dem Mittagessen die Flügeltüren zum Garten geöffnet, sodass Flavia sich draußen
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