Kalte Schulter, Heißes Herz
bat er die Dame von der Rezeption.
„Entschuldigen Sie, Mr Maranz“, entgegnete sie höflich, „aber Señorita Lassiter hat bereits ausgecheckt. Kümmern Sie sich um die Rechnung?“
10. KAPITEL
Unaufhörlich prasselte der Regen gegen die Scheiben, und der Wind rüttelte an den Fensterläden. Flavia hatte die Vorhänge zugezogen, das Nachttischlicht war gedämpft. Ihr Herz lag schwer in der Brust …
Ich hätte da sein sollen, sagte sie sich immer wieder. Ich hätte da sein sollen.
Sie machte sich schreckliche Vorwürfe, während sie am Bett ihrer Großmutter wachte. Die Pflegerin war vor etwa einer Stunde gegangen und hatte sich mit den Worten verabschiedet, Flavia könne sie wirklich jederzeit anrufen und zu sich bestellen.
Flavia wusste genau, was dieser Hinweis bedeutete. Seit sie aus dem Mietwagen gestiegen war und das Haus betreten hatte, war ihr klar, was nun auf sie zukam. Eigentlich schon seit sie Mrs Stephens aus Palma zurückgerufen hatte.
„Es geht um Ihre Großmutter.“ Schon der Tonfall von Mrs Stephens war aussagekräftig gewesen.
Und augenblicklich brachen Schuldgefühle über Flavia herein.
Ich hätte sie niemals allein lassen dürfen, dachte sie bei sich. Nie und nimmer!
Rational betrachtet konnte sie sich hundert Mal sagen, dass sie von London aus ebenso wenig für ihre Grandma hätte tun können. Dort hätte sie ihrem Vater zu Diensten gestanden, anstatt ein paar unbeschwerte Tage im Paradies zu genießen. Das schlechte Gewissen schlug jetzt gnadenlos zu.
Wie hatte sie nur so selbstsüchtig und gedankenlos sein können? Einfach mit Leon zu verschwinden, als würde der Rest der Welt nicht existieren! Sich auf einer Insel zu verstecken, und alles nur, weil … weil …
Die Worte formten sich allmählich in ihrem Kopf. Obwohl sie es mit aller Kraft zu leugnen versuchte, konnte sie die Wahrheit nicht länger verdrängen.
Weil sie sich in Leon Maranz verliebt hatte.
Diese Tatsache bahnte sich ganz langsam ihren Weg durch Flavias Verstand und zwang sie, Farbe zu bekennen. Es war ein Schock.
Das darf nicht sein, schoss es ihr durch den Kopf. Ich darf das nicht zulassen!
Diese Gefühle mussten im Keim erstickt werden. Jedenfalls nahm sie sich das vor. Wie könnte sie in dieser Situation an sich und ihr Liebesleben denken? Das spielte überhaupt keine Rolle. Schließlich saß sie gerade am Bett ihrer todkranken Großmutter, die im Sterben lag!
Der Eispanzer um Flavias Herz wurde spürbar dicker und fester. Sie wippte vor und zurück, um die furchtbaren Gefühle in ihrem Innern auszuhalten. In den Händen hielt sie die dürren Finger der alten Frau, die ihr so viel Liebe geschenkt hatte. Man konnte den Puls kaum noch fühlen, und die Atmung wurde immer flacher, unregelmäßiger.
Vorhin war außer Mrs Stephens noch eine Palliativschwester da gewesen, die Flavia genau beschrieben hatte, in welcher Weise das zu erwartende Ende kommen würde. Nur wann, das wusste niemand genau.
„Möglicherweise heute Nacht oder morgen. Vielleicht auch erst in ein paar Tagen. Aber viel länger wird es nicht mehr dauern.“ Die Augen der anderen Frau waren voller Mitgefühl gewesen. „Sie dämmert jetzt langsam aus diesem Leben.“
Tränen hatten Flavia fast blind gemacht. „Warum war ich nicht hier?“ Die Last ihrer Schuld wog schwer.
„Das hätte keinen Unterschied gemacht.“
Zumindest müsste ich mir keine so großen Vorwürfe machen, dachte Flavia verbittert, während die Zeiger der Uhr auf Mitternacht vorrückten.
Mit ihrer Grandma ging es zu Ende, und sie selbst hatte nichts Besseres zu tun, als sich wie ein hormongesteuerter Teenager am Strand zu amüsieren. Flavia hatte nur an sich und ihr Vergnügen gedacht und darüber ihre Verpflichtungen vernachlässigt. Ihre menschliche und moralische Verantwortung einer hilflosen Kranken gegenüber, der sie die besten Jahre ihres Daseins verdankte. Das war unverzeihlich!
Grandma ist immer für mich da gewesen, musste Flavia sich eingestehen. Und ich lasse sie im Stich, wenn sie mich am meisten braucht. Dafür werde ich mich auf ewig hassen!
Wäre sie unter Zwang zu Leon gegangen, allein um Harford zu retten und sicherzustellen, dass ihre Großmutter in den eigenen vier Wänden ihren Frieden finden konnte … Wäre jeder Moment mit ihm eine Qual und Überwindung gewesen, dann würde sie sich jetzt lange nicht so mies und wertlos fühlen. In dem Fall hätte ihre Abwesenheit einen triftigen und edlen Grund gehabt, weil sie es eben für einen
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