Kalte Schulter, Heißes Herz
anderen Menschen und nicht zum eigenen Vergnügen tat.
Aber jede Sekunde in Leons Armen war der Himmel gewesen. Die Stunden mit ihm hatten nicht dem Wohlergehen ihrer Großmutter, sondern nur ihrer eigenen Lust gegolten. Selbst hier am Totenbett ging ihr Leon nicht aus dem Kopf.
Flavia vermisste ihn, sehnte sich nach ihm und wollte in seiner Nähe sein. Weil sie sich ernsthaft verliebt hatte.
Nein, daran durfte sie nicht länger denken. Das war nicht mehr wichtig. Es ging ausschließlich um Gran und um ihre letzte Zeit auf Erden …
Dicke Tränen liefen Flavia über die Wangen, Trauer und Schmerz drohten sie zu ersticken. Sie streichelte die durchscheinende Hand ihrer Großmutter, während das Leben aus dem alten Körper schwand. Stunde um Stunde, während draußen die regnerische Nacht vorüberzog. Eine letzte Wache …
Leon starrte in das Unwetter hinaus. Es goss in Strömen auf Londons Straßen und Bürgersteige, die er durch die nassen Scheiben seines Büros kaum erkennen konnte. Die Wolken über ihm waren tiefschwarz, genau wie seine Stimmung. Und ihn bewegte nur ein Gedanke: Wo war Flavia?
Wohin war sie gegangen, und vor allem … wieso? Was war mit ihr passiert?
Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Nachdem er unzählige Nachrichten auf ihrer Mailbox und ihrem Handy hinterlassen hatte, erreichte ihn lediglich eine knappe SMS: Leon, ich musste weg. Entschuldige. Dringende Familienangelegenheit.
Das war alles, mehr gab sie nicht preis. Keine Meldung seitdem. Einfach nichts.
Verunsicherung und Frust hielten ihn fest im Würgegriff. Was zur Hölle war bloß los? Warum redete sie nicht mit ihm? War ihr Telefon kaputt, verloren gegangen oder gestohlen worden? Das erklärte aber nicht, warum sie ihn nicht auf anderem Weg zu erreichen versuchte. Er war schließlich kein Unbekannter, lebte nicht anonym, und außerdem wartete er dringend auf ein Zeichen von ihr! Seinen Mitarbeitern hatte er bereits Anweisung gegeben, Flavia zu jeder Tages- und Nachtzeit zu ihm durchzustellen.
Aber sie hatte sich nicht gemeldet, weder schriftlich noch persönlich.
Es war, als hätte sie niemals existiert. Oder als würde er nicht mehr existieren.
Warum tat sie ihm das bloß an?
Das Schlimmste war diese simple Frage. Sie war wie ein Tritt in den Magen, wie ein Messer in Leons Lunge. Sie raubte ihm den Atem und die Fähigkeit, klar zu denken. Es musste doch einen Grund geben – einen verdammt guten Grund –, wieso sie untergetaucht war. Es musste einfach …
Worum ging es bei dieser dringenden Familienangelegenheit?
Die einzige Familie, von der Leon wusste, war Flavias Vater. Hatte ihre Reaktion etwas mit Lassiters plötzlichem Aufbruch nach Fernost zu tun? Aber das hätte sie ihm doch mitteilen können. Ohne ein Wort der Erklärung zu verschwinden, das passte nicht zu dem, was alles zwischen ihnen geschehen war.
Warum tat sie das? Immer dieselbe Frage. Es machte ihn wahnsinnig. Flavia war ihm zuletzt so nah wie sein eigener Herzschlag gewesen. Oft hatte sie sich in zitternder Ekstase an ihn geklammert oder ihn einfach zwischendurch spontan umarmt und auf die Nasenspitze geküsst. Sie waren Händchen haltend spazieren gegangen, ganz selbstverständlich. Und jetzt behandelte sie ihn wie einen Fremden. Als würde es ihn für sie gar nicht geben. Die Stille war ohrenbetäubend und erniedrigend.
Seine Verzweiflung wurde unerträglich. Wie sollte er herausfinden, wo sie sich befand und warum sie gegangen war? Ihm wurde eiskalt, als er sich klarmachte, wie wenig er eigentlich von Flavia wusste. Sicher, sie hatten sich im Mereden und auf Santera viel miteinander unterhalten, über Gott und die Welt. So unbeschwert, als hätten sie nie etwas anderes getan. Nur über ihr Privatleben ließ Flavia kein einziges Wort fallen.
Weil Leon geglaubt hatte, dafür wäre noch genügend Zeit. Stattdessen hatte er alle Einzelheiten über sein eigenes Leben preisgegeben: wo er aufgewachsen war, wie er nach England gekommen war und sich seine Existenz aufgebaut hatte. Und was hatte Flavia von sich erzählt? So gut wie nichts.
Ihr Vater war kein Thema gewesen. Sie hatte behauptet, vom Land zu kommen, aber mehr wusste Leon nicht. Das half ihm kaum weiter. Nach ihrem Namen hatte er längst im Internet und in allen Telefonverzeichnissen nachgesehen, ebenfalls ohne Erfolg.
Sie konnte überall sein.
Mit schweren Schritten schleppte er sich zu seinem Schreibtisch zurück. Im Chaos seiner Gedanken und Gefühle bildete sich eine erschreckende
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