Kalte Spur
Kapitel
Joe beschloss, mit seinen Recherchen dort zu beginnen, wo Tuff Montegue ums Leben gekommen war. Ohne sagen zu können, warum, hielt er Tuffs Tod für den Schlüssel zum Ganzen.
Nachdem er im Schnellrestaurant am Stadtrand zu Mittag gegessen hatte, durchquerte er das kleine Zentrum von Saddlestring. Nicht-Ike war wieder einmal beim Angeln und warf kunstvoll die Schnur aus. Joe hielt hinter der Brücke und stieg aus. Maxine folgte ihm, und er mahnte sie, bei Fuß zu bleiben. Er hatte ihr gerade erst abgewöhnt, die künstlichen Fliegen, die als Köder auf dem Wasser landeten, apportieren zu wollen.
Nicht-Ike war ein stets lächelnder Riese mit großen, gelblichen Augen und einem tonnenartigen Oberkörper von solcher Fülle, dass seine zugeknöpfte Angelweste sich über dem ausgeblichenen Sweatshirt spannte, das den Schriftzug »Ich bin nicht Ike« trug. Als er Joe sah, strahlte sein Lächeln einmal mehr auf, und er winkte. Joe schaute vom Ufer aus zu, wie anmutig er die Schnur zu Wasser brachte, zwischen zwei Strömungsadern platzierte und sie etwas einrollte, damit sie den Köder nicht überholte. Die Fliege trieb auf dunklem, ruhigem Wasser. Es blitzte unter der Oberfläche; Joe hörte die Forelle anbeißen und beobachtete, wie sich die Schnur spannte und Nicht-Ikes Angel sich zum Bumerang krümmte.
»Ich hab eine erwischt!«, rief er, und sein dröhnendes Lachen ließ Joe lächeln.
Nicht-Ike holte die Forelle vorsichtig und geduldig ein,
stülpte schließlich ein Netz über das Tier und hielt es hoch, damit Joe den Fang begutachten konnte. Das Sonnenlicht blitzte in allen Farben des Regenbogens von der hellen Unterseite.
»Die dritte für heute!«
Stets behauptete er, drei Fische geangelt zu haben – egal, ob es einer gewesen war oder zwanzig.
»Hübscher Fang«, sagte Joe, als Nicht-Ike das Ufer erreichte.
»Hübscher Fang, hübscher Fang«, wiederholte der Angler, blickte auf und runzelte die Stirn. »Was gibt’s? Wollen Sie wieder meine Angelerlaubnis prüfen?«
»So ist es.«
»Schon gut, schon gut, Moment.« Joe sah zu, wie Nicht-Ike ein, zwei Meter zurück in den Fluss ging, das Netz behutsam senkte, den Köder entfernte und den Fisch freiließ. Kurz schwebte die Forelle unter der Wasseroberfläche und schoss dann mit kräftiger Wendung außer Sicht. Gott segne diesen Mann – der weiß, wie man einen Fisch freilässt, dachte Joe.
Nicht-Ike watete geräuschvoll und noch immer lächelnd ans Ufer. »Die dritte für heute!«
Ike Easter hatte Joe erzählt, dass sein Cousin früher bei klarem Verstand gewesen war, in Denver aber mit den falschen Leuten Umgang gehabt hatte. Er geriet in eine Gang, nahm Drogen, bekam im Sommer der Gewalt drei .22er Kugeln in den Hinterkopf und wurde im Five Points District mehr tot als lebendig aus einem Auto geworfen. Nach drei Jahren genesen, war er völlig verändert und hatte die von Tag zu Tag denkende Intelligenz eines Fünf- bis Sechsjährigen. Also willigte Ike Easter ein, sein Vormund zu werden. Bald nach Nicht-Ikes Ankunft in Saddlestring hatte Robey Hersig ihm das Fliegenfischen beigebracht. Zu angeln gab Nicht-Ike eine Aufgabe, und soweit Joe wusste, ging er ganz darin auf. Auch das war
ein Grund, ihm nicht zu sehr wegen einer den Vorschriften nicht entsprechenden Erlaubnis zuzusetzen.
Während Joe das Dokument prüfte, ragte der Hüne mit seinem leeren, aber strahlenden Lächeln neben ihm auf. Die Erlaubnis war in der Vorwoche abgelaufen. »Wie wär’s, wenn ich Sie zu Barretts Apotheke fahre und wir Ihnen eine Angelgenehmigung für das ganze Jahr kaufen?«, schlug Joe vor.
»Ich hab nicht genug Geld dafür.«
»Aber sie kostet kein Vermögen, nur fünfzehn Dollar.«
»Ich hab keine fünfzehn Dollar, Joseph.« Nicht-Ike war der
Einzige, der ihn je Joseph genannt hatte, und Joe wusste nicht, warum.
»Hören Sie, ich kauf Ihnen eine Genehmigung. Sie brauchen nicht mal Ihr Geld dafür auszugeben.«
Diesen Vorschlag fasste Nicht-Ike als Beleidigung auf und zog ein finsteres Gesicht. »Ich will Ihr Almosen nicht, Joseph. So was hab ich nie angenommen und werde es auch nicht tun.«
Joe seufzte. Er hatte ihm schon mal angeboten, ihm eine Erlaubnis zu kaufen, und schon damals hatte Nicht-Ike abgelehnt.
»Vielleicht sollte ich mit Ike darüber reden.«
»Bringt nichts«, erwiderte Nicht-Ike und schüttelte den Kopf, als würde er Joes Enttäuschung teilen. »Er weiß, dass ich keine Almosen annehme.«
Joe gab ihm das Dokument zurück. »Gut,
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