Kalte Spur
Morgensonne. Er entfernte den Schlauch mit zwei Fingern, als nähme er eine Zigarette aus dem Mund.
»Soll ich dich überhaupt fragen?«, seufzte Joe.
Nate strich sich grinsend das Haar aus dem Gesicht und musterte ihn mit seinem durchdringenden Blick. Er hatte einen kantigen Schädel mit einer vorspringenden Nase zwischen den scharfen, limettengrünen Augen.
»Erstaunlich, was man unter Wasser alles hört«, sagte er. »Ich mach das, seit der Fluss wärmer ist. Ich dachte, es wäre entspannend, aber hier unten ist jede Menge los – auch wenn es von draußen ganz ruhig aussieht.«
Joe nickte nur.
»Es ist, als wäre man mit der Erde eins, so blöd sich das wahrscheinlich anhört«, fuhr Nate fort. »Unter Wasser gibt’s
weder Luft noch Wind, alles ist solider und verbundener. Deshalb hört und spürt man so viel.«
Er bekam große Augen. »Ich habe Steine sich vom Boden lösen und ein Stück mit der Strömung rollen hören. Das klingt ein bisschen wie Bowlingkugeln. Fische hab ich vorbeizischen und nach Insektenlarven schnappen hören. Ich hab dich mit dem Auto kommen, aussteigen und herumgehen hören. Wenn ich ganz genau aufgepasst hätte, hätte ich sogar deine Schritte auf dem Weg zum Fluss vernommen.«
Joe dachte darüber nach. Er hätte keine Lust zu so was, aber das war eben Nate.
»Echt cool«, grinste Romanowski.
Nate goss erneut Kaffee auf, während Joe ihm alles über die Morde und Verstümmelungen erzählte. Er unterbrach ihn nie, hörte aber aufmerksam zu, schenkte zwei große Becher voll und ließ sich seinem Besucher gegenüber nieder.
Als Joe mit der Schilderung fertig war, saßen sie bereits beim dritten Becher.
Nate lehnte sich zurück, verschränkte die Finger hinterm Kopf und sah mit schmalen Lippen zur Decke. Joe wartete.
»Ich glaube, du denkst zu sehr wie ein Bulle und lässt dich von den Ereignissen lenken«, stellte Nate schließlich fest. »Verlass die Polizistenperspektive und schau dir alles mit frischem Blick an – aus einem völlig anderen Winkel.«
»Und aus welchem?« Joe hatte etwas in dieser Art von ihm erwartet, sich allerdings mehr erhofft. Eine Antwort womöglich. Oder wenigstens eine Theorie.
»Du gehst offenbar davon aus, dass alles zusammenhängt. Das ist eine logische und polizeitypische Herangehensweise. Aber vielleicht ist es nicht so. Womöglich handelt es sich um
unterschiedliche Vorfälle, die nur zufällig hier zusammenfallen.«
»Du klingst ein bisschen wie Cleve Garrett«, seufzte Joe.
Nates Brauen schossen aufwärts. »Auch wenn er ein Spinner ist, kann er der Wahrheit auf die Spur gekommen sein. Wobei ich nach allem, was du erzählst, nicht daran glaube. Garrett versucht, alles auf Aliens oder so zurückzuführen. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die Dinge unabhängig voneinander geschehen und lediglich gewisse Handlungsstränge parallel laufen.«
Joe richtete sich erwartungsvoll auf, denn genau das hatte auch er bereits gemutmaßt. »Kannst du nach allem, was ich dir erzählt habe, einen oder zwei Stränge isolieren?«
»Vielleicht. Wann gab es hier zuletzt glaubwürdige Berichte über Rinderverstümmelungen?«
»Vor über dreißig Jahren. Anfang und Mitte der 70er.«
»Was war damals los?«
»Keine Ahnung – Gaspipelines, Rezession, Jimmy Carter.«
Nate lächelte kühl. »Aber was war hier los?«
Joe dachte nach und empfand erneut ein schwaches Wiedererkennen. »Öl- und Gasbohrungen im großen Stil. Der letzte Boom der Energie-Industrie.«
»Genau. Jedenfalls bis vor ein paar Jahren. Es war damals ein wenig so, wie es seit Kurzem wieder ist, findest du nicht?«
»Das war mir gar nicht aufgefallen«, gab Joe zu.
»Natürlich nicht, du hast wie ein Polizist gedacht. Du musst die größeren Zusammenhänge sehen und alles mit frischem Blick betrachten.«
»Hier gibt es viele Raubeine«, stellte Joe fest. »Sie kommen aus dem ganzen Land, um nach Gas zu bohren und Pipelines zu verlegen. Seit dem letzten Boom hat es hier nicht mehr so viele Auswärtige gegeben.«
»Stimmt. Also überlegst du sicher, ob einige davon schon mal da waren. Oder ob irgendwer oder irgendwas zornig wird, wenn hier das große Bohren losgeht.«
Joe stöhnte. »Das ist zu abgedreht.«
»Ein unverbrauchter Blick auf die Dinge ist das.«
Joe schwieg einen Moment. »Sonst noch was?«
Nate nickte ernst. »Ich hab Sorgen um den Grizzly. Neulich hab ich von einem Bären geträumt.«
»Was?«
»In meinem Traum war er gesandt, eine Mission zu erfüllen«,
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