Kalte Spur
ein Schäferwagen. Nirgendwo ein Pick-up, nur ein paar weiße Schafe, in deren Fell das blassblaue Mondlicht versickerte. Der Wagen war ein Modell, wie es früher überall in den Rocky Mountains zu finden gewesen war: eine beengte Bleibe auf Rädern, die als Anhänger gezogen und inmitten einer Herde aufgestellt wurde – der aus dem 19. Jahrhundert stammende Vorläufer des Wohnmobils.
Am Heck des Wagens war die Tür, und über der Koje am vorderen Ende befand sich das einzige Fenster. Das Ofenrohr des Holzherds ragte aus dem abgerundeten Dach.
Joe hielt an und überprüfte die Koordinaten.
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Was?«, fragte Nate.
»Wir sind da. Von hier soll das Funksignal des Grizzly gekommen sein. Von genau diesem Fleck. Aber ich sehe nur den Wagen und Schafe.«
Nate beugte sich vor und blickte zwischen dem GPS-Display und der Mulde hin und her. »Wenn ich mich nicht täusche, ist unser Bär im Schäferwagen.«
Joe sah ihn an. »Das ist wirklich seltsam.«
Der Falkner nickte.
»Hast du genug Munition für deine Kanone da?«, fragte Joe.
Nate zuckte die Brauen. »Ja. Ich hoffe nur, dass ich sie nicht brauche.«
Joe hielt zwanzig Meter vor dem Schäferwagen, dessen angelehnte Hecktür im hellen Licht seiner Scheinwerfer lag. Im Inneren des Wagens war es stockfinster, und kein Rauch kam aus dem Ofenrohr.
Während Joe die Betäubungspistole im Schein der Deckenleuchte lud, indem er die Plastikhülle von der Nadel abzog, sich vergewisserte, dass der Pfeil mit vier Kubikzentimetern Telazol befüllt war, ihn in die Kammer schob und den Lauf einrasten ließ, sagte Nate leise: »Ich habe gelesen, mit Bären arbeitet man im Prinzip ähnlich wie mit Raubvögeln. In viel größerem Maßstab natürlich, aber es ist das gleiche Verhältnis von Geben und Nehmen und gegenseitigem Respekt.«
Joe besah sich die Pistole erneut und entdeckte den Knopf zur Entsicherung der CO2-Patrone. Er betätigte ihn und hörte ein kurzes, zorniges Fauchen.
»Nate, sagst du da gerade, dass du den Grizzly abrichten willst?« Das war für ihn unvorstellbar und obendrein illegal.
»Aber nein«, erwiderte Romanowski mit Nachdruck. »Ich will verstehen, wie er tickt, und rausfinden, was er denkt und warum er gekommen ist. Und wer ihn geschickt hat.«
Joe sah ihn an und hoffte, ein leises Lächeln im Gesicht des Freundes zu entdecken, doch Nate war völlig ernst.
Mit wild klopfendem Herzen ging Joe auf den Schäferwagen zu. Er sollte sich ihm von links nähern, von der Seite also, zu der die Tür aufging, Nate dagegen von rechts. In der einen Hand hatte er die Betäubungspistole, in der anderen die Taschenlampe. Wenn sie ihre Positionen eingenommen hatten, würde Nate eine Schlaufe über die Klinke schieben und die Tür vorsichtig aufziehen, damit Joe mit der Lampe in den Wagen leuchten konnte. Sollte der Bär drin sein, würde er geradewegs auf ihn schießen und dabei auf Hüften oder Schultern zielen. Schieß ihm nicht in den Kopf, ermahnte er sich. Wenn er danebentraf, konnte der Pfeil glatt abprallen.
Hier bin ich also, dachte er, mit meiner kleinen Betäubungspistole und ohne Fluchtmöglichkeit, falls die Sache schiefgeht. Die Schafe in der Mulde hatten nicht einmal aufgeschaut, als sie sich angeschlichen hatten.
Nate war in dieser Lage Joes Rückversicherung. Seinen zuvor getroffenen Feststellungen zum Trotz hatte Romanowski sich damit einverstanden erklärt zu schießen, falls der Bär einen von ihnen angriff. Von der anderen Seite des Schäferwagens vernahm Joe das leise Klicken, mit dem Nate seinen Revolver spannte.
Im Wagen selbst war es vollkommen still. Kein Atmen, kein Rascheln. Doch er roch etwas Dumpfiges, Moschusartiges: einen
Bären. Vorsichtig spähte er um die Wagenecke und sah Nate die Schlaufe über die Klinke schieben und sie behutsam anziehen. Langsam öffnete sich die Tür. Als eine rostige Angel quietschte, wäre Joe beinahe aus den Stiefeln gesprungen.
Dann war die Tür breit offen, und er schwenkte um die Ecke und leuchtete in den Wagen. Die Betäubungspistole hielt er parallel zur Taschenlampe.
Der Schäferwagen war leer.
»Entwarnung«, krächzte Joe, und seine Stimme verriet seine Angst.
Nate kam um die Tür herum und sah über das Visier seiner Faustfeuerwaffe in den Wagen.
»Komplett demoliert«, stellte er fest, sicherte seinen Revolver und schob ihn zurück ins Holster.
Im Schein der Taschenlampe waren ein zersplitterter Tisch und eine alte, zerfetzte Matratze zu sehen, deren
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