Kalte Spuren (German Edition)
den Dienst. Nur einen Augenblick darauf erklang eine tiefe Männerstimme. Andys Vater.
»Markus? Andy ist gestern Abend in Unna erschossen worden.«
Das Handy fiel zu Boden. Markus wankte. Er versuchte, irgendwo Halt zu finden, doch seine Knie gaben einfach nach, sodass er der Länge nach auf dem Teppich landete. Aus dem Handy drang ein »Hallo? Hallo?«, doch er ignorierte es.
Erschossen? Andy?
Markus merkte erst, dass er sich übergab, als das Erbrochene sein Gesicht nässte. Angewidert richtete er sich auf, schleppte sich ins Bad und beugte sich über die Toilettenschüssel. Er würgte, bis ihm schier die Galle hochkam und es außer einem feinen Rinnsal Spucke nichts mehr gab, was er erbrechen konnte. In gehockter Haltung hing er über dem Klo und begann zu weinen.
Andy. Erschossen. Das konnte doch nur dieser Engländer gewesen sein. Verdammt, das war seine Schuld. Andy war seinetwegen gestorben.
Es schellte an der Tür.
Lasst mich alle in Ruhe!
Jemand klopfte und klingelte erneut. Aus dem Klopfen wurde ein Hämmern.
»Ja, doch, ich komme!«, rief Markus und erhob sich. Er spülte sich kurz den Mund aus, ging zur Tür. »Wer ist da?«
»Polizei, machen Sie bitte auf.«
Scheiße!
Er drückte die Klinke und zog die Tür einen Spaltbreit auf. Im Hausflur standen zwei uniformierte Beamte. Ein Mann und eine Frau. Dahinter eine weitere Frau in Zivil. Sie trug ihr schulterlanges, rotblondes Haar offen, hatte klare, blaue Augen und dünne Augenbrauen. Mehr als einen langen, beigefarbenen Mantel konnte Markus von ihr nicht sehen.
»Guten Morgen, Herr de Vries. Ich bin Polizeiobermeister Gaardian, meine Kollegin Polizeimeisterin Rettich.« Der Beamte hielt Markus einen Dienstausweis unter die Nase. »Dürften wir eintreten?«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
Der Beamte lächelte, während seine Partnerin die Augen verdrehte. Nur die zivil gekleidete Frau blickte Markus kühl an.
»Und Sie sind?«, fragte er.
Sie verzichtete darauf, ihm einen Ausweis zu zeigen, und sagte nur: »Veronica Pothoff, Militärischer Abschirmdienst.«
Markus bemühte sich, nicht auf der Stelle in die Knie zu brechen. Seine Hand verkrampfte sich um die Türklinke. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass er keine Luft mehr bekam, schlicht weil er nicht mehr atmete. Er stieß den angehaltenen Atem aus und rang sofort nach neuem.
»Hören Sie, ich bin gerade erst wach geworden … Kann ich mich kurz duschen und mir was anziehen?«
Der Polizist sah zu Frau Pothoff. Erst als diese nickte, blickte er wieder in Markus’ Richtung.
»Wir warten unten im Wagen«, sagte der Beamte. »Wir bitten Sie, uns für eine Vernehmung zum Revier zu begleiten.«
Vernehmung? Die Übelkeit schoss durch Markus’ Speiseröhre bis in den Rachen und kitzelte seinen Gaumen. Er musste sich beherrschen, nicht auf der Stelle wieder zu würgen. Für ein Erbrechen war sein Magen ohnehin zu leer.
»In Ordnung, ich komme gleich.« Er schloss die Tür, drehte sich um, lehnte mit dem Rücken dagegen und sackte daran herunter. Sein Kopf fiel in die Hände. Die Tränen schossen ihm ins Gesicht.
09:17 Uhr
Dankbar nahm Markus die dritte Tasse Kaffee entgegen, schüttete sich etwas Milch dazu und trank in kleinen, aber hastigen Schlucken. Die Befragung bei der Polizei war kurz und knapp verlaufen. Man hatte ihn seltsamerweise nicht zum Revier nach Werne oder Unna gebracht, sondern ins Polizeipräsidium nach Dortmund.
Woher er Andy kannte, wollten sie wissen. Wann er ihn zuletzt gesehen hatte. Ob er sich vorstellen könnte, warum ihn jemand erschießen wollte. Warum er vorzeitig die Diskothek in Unna verlassen hätte.
All diese Fragen, die Markus beinahe apathisch mit einigen »Nein« und »Weiß nicht« und »Keine Ahnung« abgetan hatte. Zumindest die Fragen, die sie ihm über gestern Abend stellten.
Nach zwanzig Minuten verschwanden die Vernehmer. Nur Frau Pothoff blieb. Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und über eine Stuhllehne gehängt. Darunter trug sie blaue Jeans, einen Pullover mit V-Ausschnitt und Stiefeletten mit breitem Absatz.
Sie setzte sich rücklings auf einen Stuhl und begann zu kippeln, während sie eine Aktenmappe aufschlug und darin herumblätterte.
»Weitzki war also mit Ihnen an der Uni«, sagte sie und wiederholte damit nur das, was Markus vorhin den Polizisten gesagt hatte.
Er nickte und trank noch einen Schluck Kaffee. Die Tasse war schon fast wieder leer.
»Kennen Sie diese Frau?« Pothoff schob ihm ein Foto herüber.
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