Kalte Stille - Kalte Stille
unterwegs gewesen war. Sie bogen in die langgezogene Kurve hinter Amstners Haus ein, ohne dass Rauh vom Gaspedal ging. Die Straße war schneefrei, aber dennoch spürte Jan, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
… noch viel schlimmer ist die Vorstellung, als Beifahrer in einem Auto zu sitzen und dem Fahrer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.
»Bevor sich Wagner tatsächlich das Leben nahm, kam es eines Abends zu einem Zwischenfall«, setzte Rauh seinen Bericht fort. »Ein Mitpatient sah Blut unter einer der Toilettenkabinen herauslaufen. Die Pfleger brachen die Tür auf und konnten Wagner gerade noch davon abhalten, sein bestes Stück abzutrennen. Er kam mit dem Leben davon, war jedoch nicht mehr zeugungsfähig.«
»Er hat versucht, sich selbst zu kastrieren?«, fragte Jan verdutzt. »Hatten Sie nicht vorhin noch gesagt, dass das seine größte Angst war?«
»Allerdings«, nickte Rauh. »Als ich ihn fragte, warum er das getan hatte, sagte er, er habe der Heiligen Jungfrau ein Opfer darbringen wollen, damit sie sein Versteck vor seinen imaginären Verfolgern geheim halte.«
»Was für ein Versteck hat er gemeint?«, fragte Jan und hielt den Türgriff fest umklammert.
Rauh sah kurz zu ihm herüber. »Fahre ich Ihnen zu schnell?«
»Äh, nein. Es geht schon.«
Rauh lächelte spöttisch. Dann erzählte er weiter. »Nun, anfangs dachte ich, er meinte seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort, also die Klinik. Aber dann erfuhr ich von dem Grund für seine hohen Schulden.«
»Die Lebensmittelkonserven«, sagte Jan.
»Genau. Weiterverkauft konnte er sie nicht haben, sonst hätte er wenigstens einen Teil der Schulden zurückzahlen können, und bei ihm zu Hause hatte man nichts gefunden. Also musste es höchstwahrscheinlich doch ein Versteck geben, das er vor allen geheim gehalten hatte.«
Sie kamen an der Stelle vorbei, an der Bernhard Forstner verunglückt war. Jan sah die freie Fläche, an der sich einst hohe Tannen befunden hatten. Nun lagen dort mehrere Holzstapel neben einer großen Tafel, die Touristen auf die Wanderangebote des Fahlenberger Forsts aufmerksam machte. Nichts erinnerte mehr an die tragischen Ereignisse jener Winternacht.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Rauh, der Jans Blicke aus dem Fenster bemerkt haben musste.
Jan ging nicht auf ihn ein. Er hatte Rauh ohnehin schon viel zu viel von sich erzählt.
»Wussten Sie, wo das Versteck gelegen haben könnte?«, frage er schließlich.
»Nein«, sagte Rauh. »Irgendwann hatte ich die ganze Sache einfach vergessen. Ich ging ins Ausland, verfolgte meine Karriere und bekam ein Forschungsstipendium. Kurz gesagt, mein Leben ging weiter. Aber dann tauchten Sie auf, und die ganze Geschichte wurde wieder lebendig. Die Erinnerungen kehrten zurück. Und auch wenn Sie mir das jetzt vielleicht nicht glauben werden, Jan, aber
nach unseren beiden Sitzungen wollte auch ich endlich wissen, was damals geschehen ist. Ihretwegen.«
Sie waren etwa einen Kilometer weiter gefahren, als Rauh das Tempo verlangsamte und auf den Waldparkplatz einbog. Rauh stellte den Motor ab und löste seinen Sicherheitsgurt.
»Mir ist Ihre Frage nachgegangen«, sagte er, »wohin Ihr Vater in jener Nacht tatsächlich wollte. Und ich denke, dass er hierher wollte. Ich glaube, er wollte sich hier mit dem Entführer Ihres Bruders treffen.«
Auch Jan klinkte seinen Gurt aus. Er wandte sich zu Rauh und sah ihn skeptisch an. »Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«
»Weil ich erst jetzt einen sicheren Hinweis darauf erhalten habe«, entgegnete Rauh. »Wissen Sie, vor einigen Tagen habe ich einen alten Bekannten getroffen. Er war Jäger hier im Forst. Lebt drüben in Kössingen. Ich beziehe immer wieder mal Wild von ihm. Nun ja, eigentlich von seinem Sohn, aber als ich neulich dort war, traf ich nur den Alten. Wir kamen ins Gespräch, und ganz nebenbei erwähnte er, dass jetzt ein Stück des Waldes zum Verkauf stehe, das er seit etlichen Jahren gepachtet hatte. Der Besitzer sei schwer verunglückt, werde wohl auch nicht mehr richtig gesund, und man brauche das Geld für die teure Behandlung.«
»Alfred Wagner«, sagte Jan und dachte an Rauhs Andeutung von vorhin.
Rauh nickte. »Nach Hartmut Wagners Tod war das Waldstück in Alfreds Besitz übergegangen. Etwas mehr als die Hälfte davon verkaufte er der Bank, um die Schulden seines Vaters abzubezahlen, aber einen Teil behielt er. Er muss ganz versessen darauf gewesen sein, obwohl ihm die Bank einen stattlichen Betrag dafür geboten
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