Kalte Stille - Kalte Stille
spöttische Unterton, in dem Rauh zu ihm sprach. Als rede er mit einem kleinen Kind oder mit einem Geisteskranken.
»Also, wie lautet Ihre Entscheidung?«
»Vielleicht mache ich jetzt einen großen Fehler«, sagte Jan.
Er holte sein Handy heraus und drückte die Kurzwahltaste. Gleich darauf meldete sich Konni. Jan erklärte ihm genau, wohin er mit Dr. Rauh unterwegs sei und dass er die Polizei verständigen solle, wenn sie nicht binnen einer Stunde zurück seien.
»Sehr klug«, sagte Rauh und nickte. »Wenn es Ihnen recht ist, nehmen wir meinen Wagen. Kommen Sie, wir wollen keine Zeit verlieren. Sonst schaffen wir es nicht in einer Stunde.«
59
Während seiner Zeit als Assistenzarzt hatte Jan einen jungen Patienten behandelt, der unter panischer Angst vor dem Autofahren gelitten hatte.
Wenn ich an den Verkehr da draußen nur denke, wird mir sofort übel, hatte der Mann erklärt, und der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Aber noch viel schlimmer, hatte er hinzugefügt, ist die Vorstellung, als Beifahrer in einem Auto zu sitzen und dem Fahrer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein .
Als Jan jetzt auf dem Beifahrersitz neben Norbert Rauh saß und mit ihm über die Schnellstraße zur Fahlenberger Ortsausfahrt unterwegs war, konnte er die Empfindungen des Mannes lebhaft nachfühlen.
»Ich will Ihnen etwas erzählen«, sagte Rauh und betätigte den Scheibenwischer, um das Spritzwasser eines Betonmischers vor ihnen zu beseitigen. »Als ich an der Waldklinik anfing, kam ich gerade frisch von der Uni. Ich kannte bis dahin nur Kasuistiken aus Fachbüchern. Hartmut Wagner war, wenn man so will, das erste reale Fallbeispiel, mit dem ich zu tun hatte. Ein interessanter Patient mit komplexer Anamnese. Als ich von seiner Geschichte erfuhr, warf ich den ganzen theoretischen Krempel auf den Müll. Das, was wirklich in dieser Welt geschieht, kann sich kein Theoretiker ausdenken. Ja, ich glaube sogar, kein Romanschreiber hat so viel kreative Energie wie das Leben selbst.«
»Was war mit ihm?«, fragte Jan. Er war nervös, versuchte sich dies aber nicht anmerken zu lassen.
»Hartmut Wagner muss ein einfach strukturierter junger Mann gewesen sein«, sagte Rauh, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Meiner Einschätzung
nach hatte er schon immer unter einer leichten Intelligenzminderung gelitten. Bis zum Zweiten Weltkrieg war sein Vater Waldarbeiter gewesen, dann wurde er in die Wehrmacht eingezogen und fiel bei der Erstürmung Warschaus. Hartmut lebte bei seiner Mutter, und die beiden hielten sich während der folgenden Jahre mehr schlecht als recht über Wasser. Dann kam Hitler auf die Wahnsinnsidee, sein letztes Aufgebot in die Schlacht zu schicken, alte Männer und kleine Jungs. Hartmut stand kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag und meldete sich freiwillig, obwohl ihn seine Mutter davon abhalten wollte. Der Junge war ein feuriger Verfechter der Endsiegideologie und wie besessen von der Idee, den Tod seines Vaters am Feind zu rächen. Nun ja, wie gesagt, er muss schon damals nicht sonderlich helle gewesen sein.«
Sie erreichten eine Ampelkreuzung. Rauh bog links in eine kleinere Straße ein, die um Fahlenberg herum zur Stadtrandsiedlung unterhalb des Waldes führte.
»Als Wagner zu mir in die Klinik kam, lag seine Zeit in der russischen Kriegsgefangenschaft zwar schon mehr als zwanzig Jahre zurück, aber das Trauma hatte ihn schizophren werden lassen. Er litt immer wieder unter heftigen paranoiden Wahnvorstellungen. Während solcher Schübe sah er sich von den ›purpurnen Schlächtern‹ verfolgt, wie er sie nannte. Er hatte, wie ich erfuhr, mit angesehen, wie Aufseher seines Gulags einige Mitgefangene kastriert hatten und verbluten ließen. Seither litt er unter der Angst, russische Kommunisten würden das Land heimsuchen und ihm dasselbe antun. Und, na ja, es waren die frühen Siebziger, da bot sich eine Menge Zündstoff für seinen Verfolgungswahn.«
Sie hatten die Siedlung erreicht und passierten das
Fahlenberger Ortsschild. Als der Wagen über den Bahnübergang rumpelte, schaute Jan zu Hubert Amstners verfallenem Bahnwärterhäuschen hinüber. Im grauen Tageslicht sah es noch maroder aus als neulich bei Nacht. Hier halfen keine Renovierungsarbeiten mehr. Das uralte Gemäuer, das schon die erste Dampflok auf der Bahnstrecke von Fahlenberg nach Ulm gesehen haben musste, war längst reif für die Abrissbirne.
Rauh fuhr die schmale Straße entlang, auf der Jans Vater dreiundzwanzig Jahre zuvor
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