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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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Jan spöttisch an. »Wenn es dein moralisches Empfinden tröstet - die Affäre mit deiner Mutter hat nicht lange gedauert. Und es war auch nie mehr als eine Affäre. Sie hat Bernhard geliebt, auch wenn er es eigentlich nicht wert gewesen ist. Immerhin hatte er deine Mutter über Jahre hinweg mit seiner Arbeit betrogen. Ein aufstrebender junger Mediziner, dem seine Karriere über alles ging.«
    Er machte eine abfällige Geste mit dem Stofffetzen. »Ich glaube, für deine Mutter war die kurze Beziehung mit mir nichts anderes als ausgleichende Gerechtigkeit. Sie war einsam, so wie ich zu jener Zeit. Wenige Jahre zuvor hatte ich den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren. Ich war auf der Suche nach Trost.«
    Fleischer wich Jans Blick aus. Er senkte den Kopf und starrte mit ernstem Gesicht zu Boden, wo sich ein dünnes Rinnsal Blut auf seine Schuhe zubewegte. »Heute weiß ich, dass es für mich nie Trost gegeben hat und nie geben wird. Aber dazu musste ich erst heiraten und zwei Töchter in die Welt setzen. Niemand, weder deine Mutter noch meine Frau noch deine Halbschwestern konnten mich aus jenem schwarzen Loch ziehen, in das ich vor vielen Jahren gefallen bin. Nicht einmal du konntest das.«
    Fleischer verfiel in Schweigen. Stille breitete sich in
dem kalten Munitionsdepot aus. Nur das leise, weit entfernte Heulen des Windes drang zu ihnen vor.
    Zum ersten Mal seit Jahren empfand Jan die Stille wie eine Erlösung. Wenn er hier unten den Wind hören konnte, der sich im Vorraum zum Eingang fing, dann bedeutete dies, dass Fleischer die Luke offen gelassen hatte. Dann bestand Hoffnung, dass man das Loch entdecken würde. An diesen Strohhalm wollte er sich klammern - und wenn es das Letzte war, was er seinem Leben tat.
    Ich muss ihn am Reden halten, sagte er sich. Auf keinen Fall darf er in seiner Depression versinken und allem ein Ende setzen wollen.
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte Jan.
    »Ach ja?« Fleischer hob den Kopf. Er sah aus, als habe Jan ihn aus einer anderen Welt zurückgeholt.
    »Ich habe Sie gefragt, wo Sven ist. Was haben Sie ihm angetan?«
    »Du willst es also wissen.« Fleischer wiegte den Kopf und seufzte. »Na gut.«
    Er nahm die Pistole wieder in die Hand, stand auf und legte den Stofffetzen auf der Kiste ab. Dann ging er an Jan vorbei ans andere Ende des Raumes und blieb neben einer Plane stehen, die etwas anderes als Munitionskisten verdeckte.
    »Weißt du, Jan«, begann er mit fast feierlicher Stimme, »es gibt da etwas, von dem ich nie einer Menschenseele erzählt habe. Aber ich denke, jetzt ist es an der Zeit, mein Schweigen zu brechen. Du bist mein Sohn und hast es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Zwar hatte ich mir dafür einen angenehmeren Ort vorgestellt, aber so wie die Dinge jetzt stehen, scheint das hier durchaus der richtige Ort zu sein.«
    Jan sagte nichts und sah zu, wie Fleischer die Plane
vorsichtig anhob und dann zu Boden gleiten ließ. Seine Augen weiteten sich, als er sah, was Fleischer darunter verborgen hatte.
    Das Konstrukt, das aus den olivfarbenen Kisten, einigen Kerzen und einem weißen Spitzentuch zusammengestellt war, sah einem Altar gleich. Obenauf thronte ein Bild, und der Anblick verschlug Jan die Sprache. Es war das Porträt einer lachenden jungen Frau mit langen dunklen Haaren und ausdrucksstarken Augen. Ihre Ähnlichkeit mit Alexandra Marenburg und Nathalie Köppler war frappierend.
    Es handelte sich bei dem Porträt ganz offensichtlich um den vergrößerten Ausschnitt eines Fotos, das Jan schon einmal gesehen hatte. Ihm fiel das Klassenfoto in Fleischers Büro wieder ein - dasselbe Foto, das Jan auch bei ihm zu Hause im Arbeitszimmer wiederentdeckt hatte.
    Unterhalb des Rahmens lag etwas, das Jan nicht sogleich erkannte. Eine Art Relief. Daneben lag ein säuberlich zusammengelegtes Abendkleid aus nachtblauem Samt.
    »Was hat das alles zu bedeuten?«
    »Denk an mein Nietzsche-Zitat.« Fleischer fuhr zärtlich mit den Fingerspitzen über die Konturen des Reliefs, das Jan jetzt als eine Maske erkannte. »Demnach bin ich der Bewahrende. Der Verehrer der Vergangenheit.«
    Er trat einen Schritt zurück und sah sich zu Jan um. »Ich war fünfzehn, als eine neue Mitschülerin in meine Klasse kam. Sie sollte mein Leben für immer verändern. Ihr Name war Carmen. Dieses Bild hier …«, er deutete mit der Pistole auf das Porträt, »es wird ihrer wahren Schönheit kaum gerecht. Wenn sie an sonnigen Tagen auf dem Schulhof ihr langes Haar offen trug,

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