Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
Vom Netzwerk:
lächelte Jan mit entrücktem Blick an. »Danach schlug mein Herz so wild, Jan, dass ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Dann kam das Abitur, schneller, als ich befürchtet hatte, und nachdem wir alle bestanden hatten - auch meine beiden Nachhilfeschülerinnen -, nahte die Zeit des Abschieds. Zu spät erfuhr ich, an welcher Universität sich Carmen eingeschrieben hatte, und der Gedanke, die nächsten Jahre von ihr getrennt zu sein, stürzte mich in die schwärzeste Depression. Hinzu kam die Angst, sie würde sich dort in einen anderen verlieben und den Kontakt zu ihren bisherigen Freunden und Bekannten abbrechen.«

    Fleischer blieb stehen und starrte ins Leere. Er schwieg, und Jan deutete dies als schlechtes Zeichen. Die ausdruckslose Miene des Professors verhieß nichts Gutes, ebenso wenig die verkrampfte Art, mit der er nun die Pistole hielt.
    Ich muss ihn am Reden halten. Ihn etwas fragen, mit ihm sprechen!
    »Was hat das alles mit meiner Familie zu tun?«
    Für den Bruchteil einer Sekunde starrte Fleischer ihn an, als wisse er nicht, wo er sich befand. Dann schüttelte er sich und rieb sich die Schläfe.
    »Ja, ja,«, sagte er langsam. »Ich erzähle es dir ja. Ich erzähle es. Zwischen Carmen und mir kam es nie zu mehr als zufälligen Berührungen.« Es hörte fast wie eine Entschuldigung an. »Wenn wir nach demselben Buch griffen, oder eine flüchtige Umarmung zur Begrüßung. Aber ich war abhängig von ihrer Nähe. Das war für mich so wichtig wie atmen. Und dann, an unserem letzten Abend, während die Abschlussfeier in vollem Gang war, sagte ich es ihr.«
    »Wie hat sie darauf reagiert?«, wollte Jan wissen, doch der Professor schien ihn nicht zu hören.
    »Ich sehe sie vor mir«, sagte Fleischer. »So als sei es erst gestern gewesen. In ihrem dunkelblauen Kleid steht sie auf der Terrasse hinter dem Festsaal unserer alten Schule. Sie sieht gedankenverloren die breite Steintreppe hinunter, die zum Parkplatz führt. Sie wirkt ein wenig traurig. Als ich sie frage, was mit ihr los ist, sagt sie, im Saal sei es ihr zu verqualmt und stickig. Sie brauche frische Luft. Es ist dunkel, und nur das Licht des Festsaals erhellt ihr wunderschönes Gesicht. Ich sehe das Glitzern in ihren Smaragdaugen, den glänzenden Lippenstift auf ihrem vollen Mund und das einzelne Haar, das sich in
ihrer dunklen Braue verfangen hat. Ich rieche ihr Parfüm, süß und schwer, mit einer dezenten Holznote, als ob es der Magie dieses Augenblicks einen eigenen Duft verleihen will. In dieser Atmosphäre klingt ihre Stimme noch voller und wärmer, ja geradezu verlockend.«
    Fleischer ging zurück zu den Kisten neben Rauhs Leiche und setzte sich seufzend.
    »Es war überhaupt nicht schwer, ihr meine wahren Gefühle zu gestehen. Im Gegenteil. Was ich jahrelang mit mir herumgetragen hatte, kam nun ganz leicht über meine Lippen. Es war so gut, es endlich auszusprechen, ihr dabei in die Augen zu sehen und sich ihrer völligen Aufmerksamkeit gewahr zu sein. Es war eine Befreiung. Aber dann«, Fleischer runzelte die Stirn, »dann geschah etwas, das ich niemals erwartet hätte. Sie hatte mich kein einziges Mal unterbrochen, während ich zu ihr sprach, und ich hatte ernsthaft geglaubt, sie würde mich verstehen. Ja, für einen winzigen Augenblick hatte ich sogar gehofft, sie würde dieses Geständnis erwidern. Doch stattdessen …«
    Fleischer presste die Augen zusammen und biss sich auf die Lippen.
    »Was hat sie getan?«, fragte Jan. Sie waren jetzt an einem kritischen Punkt angelangt, und wenn er den Professor jetzt nicht zum Weiterreden bewegte, war das Schlimmste zu befürchten.
    Fleischer öffnete wieder die Augen. Als er Jan ansah, liefen ihm Tränen über die Wangen. »Sie hat mich ausgelacht, Jan.«
    »Ausgelacht?«
    Fleischer nickte. »Du könntest mir bei vollem Bewusstsein alle Zähne aus dem Mund reißen, mir die Finger brechen oder die Hände abschneiden - es wäre nichts
gegen den Schmerz, den ich bei diesem Lachen empfand. Es war kein fröhliches Lachen, Jan, es war nicht einmal belustigt. Vielmehr spürte ich den Ekel, der sich hinter dem Lachen verbarg. Nach all der Zeit, die ich geglaubt hatte, ihr auf Augenhöhe zu begegnen, gab sie mir nun wieder zu verstehen, wie klein und unbedeutend ich doch war.«
    Fleischer erhob sich zur vollen Größe, die Hände zu Fäusten geballt, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Jan starrte auf die Pistole. Noch war sie auf den Boden gerichtet.
    »Ob ich verrückt geworden sei«,

Weitere Kostenlose Bücher