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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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stieß Fleischer hasserfüllt hervor. »Ob ich keine Augen im Kopf hätte. Ein Blinder müsse doch sehen, dass sie sich nie mit einem Mann einlassen würde. Sie war eine Lesbe, Jan! Dieses wunderschöne Geschöpf, das mit einem Wimpernschlag jeden Mann in die Knie zwang, war eine gottverdammte Lesbe! Und ihre Partnerin war ausgerechnet eines der Mädchen, denen ich durch meine Nachhilfe zum Abitur verholfen hatte. Was fand sie nur an ihr? Ich hätte ihr so viel mehr zu bieten gehabt. Meine Liebe, mein Wissen, mein Leben. Ihre Partnerin war ein unansehnliches, begriffsstutziges Ding. Ich konnte es einfach nicht fassen. Ich kann es bis heute nicht fassen.«
    Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich … ich fing an zu stammeln, beschwor sie. Aber sie wollte nicht verstehen. Vielleicht hat sie auch nur zu gut verstanden und wurde deshalb so abweisend - um es mir leichter zu machen. Ich weiß es nicht. Ich habe unzählige Male darüber nachgedacht, aber ich komme zu keinem Ergebnis. Nacht für Nacht verfolgen mich ihre Worte. Ich solle sie gefälligst in Ruhe lassen. Sie schrie nicht, sie zischte wie ein in die Enge getriebenes Tier. Ich glaube,
sie hatte Angst vor mir, vor meiner Körpergröße. Ich war ihr zu nahe gekommen, aber ich merkte es nicht.«
    Nun begriff Jan schlagartig, was danach geschehen sein musste. »Sie haben sie umgebracht, nicht wahr? Das war Ihr erster Mord.«
    »Es war ein Unfall!«, schrie Fleischer. »Ich wollte das nicht, das musst du mir glauben. Es platzte einfach so aus mir heraus. Ich nannte sie eine Schlampe, ein Miststück, eine …« Er keuchte und schüttelte den Kopf. »Ich packte sie bei den Schultern. Ich stieß sie leicht an. Nur ganz leicht. Es war nur ein winziger Stoß, aber … Sie verlor den Halt, prallte rücklings gegen das steinerne Geländer und stürzte die Treppe hinab. Als sie auf der untersten Stufe aufschlug, hörte ich ihr Genick brechen. Vielleicht hätte sie es überlebt, wenn ihr Reaktionsvermögen besser gewesen wäre. Die Polizei stellte später einen erhöhten Alkoholwert im Blut fest. Vielleicht hätte sie all die hässlichen Dinge nicht zu mir gesagt, wenn sie nüchtern gewesen wäre. Vielleicht, vielleicht …«
    Fleischer schlug die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos. Jan lauschte angespannt in den Gang. Doch dort war nichts zu hören. Niemand kam, um ihm zu helfen. Eine Welle der Verzweiflung drohte über ihm zusammenzuschlagen. Doch er riss sich zusammen.
    Er wandte sich an Fleischer: »Warum Sven? Was hatte mein Vater damit zu tun?«
    Fleischer hielt noch immer die Hände vors Gesicht. Er schluchzte. »Ich muss dir sicherlich nicht erklären, was Alpträume sind«, fuhr er mit matter Stimme fort. »Dass es Alpträume gibt, die einen verfolgen, auch wenn man nicht schläft. Ich sehe sie fallen, Jan. Wieder und wieder. In jedem stillen Moment. Nachts im Bett, tagsüber, wenn ich allein in meinem Büro bin, abends auf dem Weg zum
Parkplatz. Ihr Geist verfolgt mich. Sie will mir nicht verzeihen. Alle hielten ihren Sturz für ein tragisches Unglück. Niemand verdächtigte mich. Es hieß, der Alkohol sei schuld. Und ich schwieg.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Feigling, Jan. Deshalb habe ich geschwiegen. Ich habe immer geschwiegen.«
    Jan sah zu dem Porträt auf dem Altar. »Und irgendwann kam Alexandra Marenburg in die Klinik, und sie hat Sie an Carmen erinnert.«
    »Nicht nur erinnert, Jan. Die Ähnlichkeit mit Carmen war unglaublich - ja, geradezu unheimlich. Sie war sogar in ihrem Alter. Es war, als sei Carmen nach Jahren zu mir zurückgekehrt, damit ich sie um Verzeihung bitten konnte.«
    Jan sah Fleischer an und schüttelte den Kopf. »Als Psychiater müssten Sie eigentlich wissen, wie sich das anhört.«
    »Ich weiß, Jan, ich weiß. Zuerst sträubte ich mich auch gegen diese Vorstellung, hielt mich für verrückt - aber dann, eines Tages, als ich Bernhard bei seinen Patienten vertrat, lächelte sie mich während eines Gesprächs an, und ich erkannte Carmens Lächeln wieder.« Er riss die Augen auf, als sähe er es wieder vor sich. »Sie war es, Jan! Für einen kurzen Moment war sie Carmen, darauf schwöre ich jeden Eid. Und wieder konnte ich ihr nicht widerstehen.«
    »Was haben Sie mit ihr gemacht? Ist Alexandra Ihretwegen aus der Klinik weggelaufen?«
    Mit einer bedauernden Geste hob Fleischer die Hände. »Himmel, ich konnte doch nicht ahnen, dass die Sache derart ausufern würde. Es war doch nur Früchtetee und ein wenig

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