Kalte Stille - Kalte Stille
Liebwerk auf.
Konsterniert sah Jan den Hörer an. Was sollte das bedeuten?
»Alles in Ordnung?« Marenburg kam mit besorgter Miene in den Flur. »Ist was passiert?«
»Ich weiß nicht recht, Rudi. Hast du Lust auf ein Bier? Ich glaube, das dürfte dich interessieren.«
21
Es war ein unheimliches Gefühl. Vorsichtig schob Carla die Tür hinter sich zu. Ihr war, als würde sie etwas Verbotenes tun. Als das Schloss einschnappte, fuhr sie zusammen.
Mit pochendem Herzen lehnte sie sich gegen die Tür und atmete tief durch. Es gab doch überhaupt keinen Grund, sich wie eine Einbrecherin zu fühlen. Dies war schließlich die Wohnung ihrer besten Freundin, und Nathalie hatte ihr den Zweitschlüssel gleich am ersten Abend in die Hand gedrückt. »Falls ich mal jemanden zum Blumengießen brauche, oder auch sonst«, hatte sie gesagt, während die beiden auf Kartons gesessen und mit einer Flasche Prosecco von der Tankstelle den Umzug in die neue Wohnung gefeiert hatten.
Weshalb also schlich sie sich jetzt herein wie eine Fremde? Sie konnte hier doch ein und aus gehen, wann immer sie wollte, das hatte Nathalie selbst gesagt.
Weil es die Wohnung einer Toten ist, sagte ihr eine innere Stimme - der Teil von ihr, der die Dinge gern auf den Punkt brachte und dabei stets so kalt klang, dass Carla fröstelte. Auch jetzt hatte sie eine Gänsehaut.
Ja, dies war jetzt die Wohnung einer Toten. Nie mehr würde ihre Freundin einen der Schlüssel aus der Tonschale auf dem Garderobentisch nehmen. Nie mehr würde sie die Notizzettel auf der Pinnwand neben dem Flurspiegel lesen, und erst recht würde sie keinen neuen Zettel mehr dorthin heften.
Als sie sich dies vergegenwärtigte, wurde Carla auch klar, weshalb sie sich wie ein Eindringling fühlte. Alles, was sie in dieser Wohnung vorfand, hatte von der ehemaligen Bewohnerin einen endgültigen Platz zugewiesen
bekommen. Jeder, der hier etwas berührte, umstellte oder verrückte, würde ein kleines Zeugnis ihrer vergangenen Existenz zunichtemachen.
Carla fasste sich ein Herz und drang weiter in die Wohnung vor. Nathalie wäre damit einverstanden gewesen, sagte sie sich. Sie hat mich wie eine Schwester geliebt, und sie hätte gewollt, dass ich nach einem Hinweis suche .
»Ich will es verstehen können«, sagte sie leise zu dem Foto an der Pinnwand. Es zeigte Nathalie und sie bei einer Halloween-Party. Beide hatten sie sich mit viel weißem Puder und schwarzem Eyeliner als Morticia Addams zurechtgemacht und trugen eng anliegende schwarze Kleider mit weiten fransigen Ärmeln. Carla hatte eine dunkle Perücke getragen, während Nathalie ihr von Natur aus langes dunkles Haar einfach in der Mitte gescheitelt und mit Haarlack zum Glänzen gebracht hatte.
Carla lächelte traurig. Es war ein toller Abend gewesen, auf den sich die beiden schon Wochen zuvor gefreut hatten. Sie musste daran denken, wie sie auf einem Flohmarkt die Perücke entdeckt hatten und auf die Idee für ihre Kostüme gekommen waren. Fast synchron hatten sie »Morticia Addams« gesagt, um gleich darauf in lautes Gelächter auszubrechen.
Sie nahm das Foto von der Pinnwand und steckte es in ihre Jackentasche. Dann ging sie ins Wohnzimmer. Es war klein und gemütlich und zeugte von der Ordnungsliebe seiner einstigen Bewohnerin. Carla hat sich dort immer wohlgefühlt, auch wenn sie Nathalies Vorliebe für Kitsch nie geteilt hatte. Was das betraf, waren die beiden sehr unterschiedlich gewesen.
Es war, als betrete man das Zimmer einer Zwölfjährigen. Auf der Rückenlehne des Sofas hockten mehrere
Plüschtiere und Puppen, in der Schrankwand standen etliche Ballerinen aus Plastik und Porzellan, die inmitten ihrer Pirouetten für immer erstarrt waren, und im Bücherregal reihte sich eine Sammlung von Liebesromanen und Walt-Disney-DVDs, von denen die meistgesehene sicherlich Cinderella war.
Carla sah sich in jeder Ecke des Raumes um. Alles war ordentlich und aufgeräumt wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass die Bewohnerin verzweifelt gewesen wäre - so verzweifelt, dass sie sich von der Fußgängerbrücke in den Tod gestürzt hatte.
Die Wohnung wirkte, als könne jeden Moment der Schlüssel im Türschloss zu hören sein. Nathalie würde mit einer Tüte vom Supermarkt oder einer Kleinigkeit vom Schnellimbiss um die Ecke hereinkommen. Sie würde sich an den gläsernen Couchtisch setzen und zum hundertsten Mal Cinderella oder Cap & Capper oder eine Folge von Verbotene Liebe ansehen.
Oder sie würde mit ihrer besten Freundin
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